Nacktgespräche. Wilfried Heinrich. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Wilfried Heinrich
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783991079316
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gehört das Finale.

      „Nächstes Jahr gibt es die erste Exenderisch-Weltmeisterschaft, findet bei den Italienern statt.“

      Sein halsbrecherisches Lachen überschlägt sich. Mühevoll zwingt er den nächsten Satz heraus, seine Augen haben den Worterfinder im Visier.

      „Mach sie fit dafür, die brauchen dich.“ Die nächsten heraus geprusteten Worte lassen sich nur noch erahnen.

      „Exenderisches High Heel-Training ist die Zukunft, da tut sich eine ganz neue Marktlücke auf.“

      Toleranz ist eine Straßennutte

      Viel Herbst auf der Straße, zwei kurz aufeinander folgende Schauer haben mich bis auf die Haut durchnässt. Nicht nur deshalb schlechte Laune. Im Eingang wartet ein Mädel, beidhändig auf Krücken gestützt. „Better limp than crawl“, sagen große Buchstaben auf ihrem Shirt, sie macht’s mit Selbstironie.

      Später, nach der diesmal schwerfälligen Trainingssession, überwiegend an Cardio-Geräten, dringt mal wieder ein lauter Wortwechsel durch die gläserne Saunatür. Nicht wirklich borstig, sogar mit einigen höheren Tönen, und doch kontrovers. Ich bekomme nur Diskussionsfetzen mit, weil der Duschstrahl zu stark auf den Kopf prasselt und meine Ohren füllt. Doch die reichen mir, ich identifiziere einen sattsam bekannten Nervgrund: Jemand sitzt im Saunalaken eingehüllt auf der Bank, die intimen Körperstellen völlig bedeckt, während andere nach Vorschrift nackt schwitzen. Textilumhüllt saunen geht nicht, ein silberfarbenes Schild, vielleicht fünfzehn mal zwanzig Zentimeter groß, verweist extra darauf. Jeder muss sich entblößen, gültig für alle. Doch da sich nicht jeder daran hält, zetteln Vorschriftsmeckerer immer wieder Streit an.

      Warum pochen sie unbedingt auf völliges Nacktsein? Ihre Augen könnten sich doch ungehemmt voyeuristisch betätigen, sich genüsslich an den Schamlippen oder Gemächten der anderen Saunahocker bedienen, in abendlichen Stoßzeiten ist noch mehr für die Augen drin. Sogar fetischistische Blicke könnten sie ungeschoren umher tanzen lassen.

      Ein Perser und ein Norddeutscher liegen diesmal im Clinch. Der Ausländer, Ende dreißig, etwas athletisch, allein durch sein Lächelgesicht eine Bereicherung. Sehr abweichend die Anmutung des anderen, ein checkheftgepflegter Grauhaariger in den Fünfzigern, seine dröhnige Stimme klingt deutlich lauter. Ich vermute in ihm einen Pauschalurlauber mit Frühbucherrabatt-Fetisch, immer eine Reiserücktrittsversicherung dabei. Ein Beziehungswaise, dessen mal mehr und mal weniger hektisches Augenzucken nichts Gutes ahnen lässt. Er gehört zum Typ Mensch, von dem in den ersten Sekunden spürbar negative Energie ausgeht und für den das Sympathie-Ranking nur hintere Plätze übrig hat. Vorsorglich unterstelle ich ihm noch, er würde frühmorgens Hotelliegen am Pool mit Handtüchern reservieren. Für sich allein, sein täglich kleiner Sieg.

      Natürlich denke ich das klischeehaft, aber erstens klebt an jedem Vorurteil auch ein klein bisschen Wahres und zweitens braucht mein misslauniges Gemüt gerade einen Gegner.

      Als ich die Tür öffne und ihn das offenbar stört, stockt er in seinem Redefluss. Nur kurze Sekunden, bis er sich den nächsten Satz im Kopf zurechtgelegt hat.

      Sie trennt offenbar deutlich mehr als der Meinungsstreit darüber, wie ernst die Enthüllungspflicht zu nehmen sei. Sie fixieren sich, Stirn zu Stirn, kampfeswillig. Noch ein tierisches Röhren dazu, dann wäre es ein Hirschkampf. Vielleicht hat sich der Perser in den Brunftplatz des Grauhaarigen gewagt.

      „Denk, was du willst, freier als hier kriegst du’s nirgendwo“, sagt der Hellhäutige, die Finger beider Hände miteinander verschränkt, reibende Handflächen. „Rückgrat zeigen heißt auch, sich zu Regeln zu bekennen.“

      „Wenn Regeln zu den Menschen passen, dann ja und nur dann“, klingt es ihm entgegen, trocken ausgesprochen. Kopfschütteln des Persers, es kommt von ganz tief, seine Augen verlieren sich dabei, Falten auf der Stirn. Er gibt ein Friedensangebot von sich, mit nun zugewandter Stimme, das Kampfgeweih zurückgezogen. Schneller als ich mich überhaupt in die Situation hineindenken konnte, hat er wieder abgerüstet.

      „Wir haben hier ganz einfach nur die Kontroverse, ob ich mir beim Saunen ein Handtuch umschlagen kann oder, wie das Schild sagt, komplett entblößt sein muss. Belassen wir es einfach dabei, dass wir da unterschiedlich denken? Und genießen die Saunahitze, ok?“

      Doch falsch kalkuliert, der Grauhaarige besteht auf seiner Position, er bleibt in seiner starren Besserwisserstimmung.

      „Wenn du bei mir rumfragen könntest, jeder kennt mich als überaus tolerant und genauso als sehr gutmütig, das würdest du überall hören. Aber das Schild hängt nun mal nicht umsonst da. Was ihr bei euch macht, ist eure Sache, bei uns gibt es diese Regel.“

      Warum auch immer will er den verbalen Handtuchstreit stur weiterführen und tritt bei dem Perser, vermutlich ungewollt, sogar aufs Eskalationspedal. Ein Wort mit hoher Reizkraft zündelt.

      „Du sprichst von Toleranz, dann zeige hier doch deine Toleranz! Sag einfach: Ist ok, wie du hier sitzt! Aber nein, deine Toleranz scheitert bei dir doch schon an diesem kleinen Problemchen“, sein Ton bekommt wieder das Röhrige eines brünstigen Hirschs.

      „Ich sag dir eines: Toleranz ist oft eine Straßennutte, ganz billig käuflich. Der Mensch gönnt sie sich besonders dann, wenn sich dafür ein persönlicher Vorteil einstecken lässt. Lauf mal zwei Tage mit fremdländischem Gesicht herum oder gib dir mal einen arabischen Namen, dann begreifst du, dass dir das Gegenteil von Toleranz jeden Tag zig Mal in die Eier tritt!“

      Er stockt mit nachdenklichen Gesichtszügen und hochgezogenen Augenbrauen, Meinung und Diktion verschmelzen. Wie weit ist die Empörung von der gedanklichen Vision eines Fausthiebs entfernt?

      Seine Muskeln an Oberkörper und Beinen scharren sichtbar mit den Hufen, sie wollen anders als sein Kopf, aber er bleibt kontrolliert. Ein Haufen aggressiver Traurigkeit.

      „Sobald an eurem liberalen Verständnis ein Preisschild hängt, also sobald man merkt, dass es irgendetwas kostet, machen die Menschen ganz schnell einen ganz großen Schritt zurück. Ein dunkelhäutiger Kita-Erzieher, außerdem noch männlich und keine Frau, muss das bei den eigenen Kindern unbedingt sein? Besser nicht, der würde meinem Kind nur was Falsches von der Welt erzählen.“

      „Ich versteh nix mehr“, meldet sich der eben noch dröhnig laute Grauhaarige ein bisschen gelangweilt. „In welcher Welt bist du gerade, was ist dein Thema? Ich will nur, dass bitteschön die Saunaordnung eingehalten wird, für alles andere such dir andere Opfer.“

      „Dein Preis wäre es, hinzunehmen, dass dich andere völlig nackt sehen, umgekehrt jedoch nicht. Bereits daran scheitert deine Toleranz, das ist mein Thema.“ Es ist der Versuch des Persers zu sehen, seinen Atmen wieder gleichmäßiger herunter zu regeln.

      „Mein Thema ist vor allem, dass ich nicht weiß, ob du das Handtuch meinst oder mich als Mensch mit fremdländischem Aussehen. Denn ich weiß, dass sich alle gerne ein Toleranzetikett auf die Stirn klatschen, aber viele von tolerant so weit entfernt sind wie das Hühnerküken vom Einser-Abi.“

      Grinsen bei einigen der Umhersitzenden, gute Auflockerung, Punkt für ihn, sein Gesicht spricht jedoch eine völlig andere als spaßige Sprache. Zusammengepresste Lippen, tiefe Mundwinkel, er hält nur kurz inne. Weiter Gas geben oder den Fuß vom Pedal nehmen? Er entscheidet sich für die direkte Variante.

      „Ich meine nicht die mit innerlich festgetackerter Aversion gegen Ausländer, die geben sich keine Mühe, unerkannt zu bleiben, die erkennt man sofort. Ich meine die, die sich hinter ihrem freundschaftlichen Grinsen verbergen. Bei denen Fremdengenuss und Fremdenbedenken Tür an Tür in einem Kopf wohnen und die je nach Bedarf mal die eine und mal die andere Karte ziehen. Für beide Alternativen immer Argumente parat, so wie es gerade passt.“

      Seine klare und korrekte Sprache zu den differenzierten Aussagen beeindruckt mich.

      „Ein klasse Deutsch sprichst du“, meine ich ihn loben zu müssen und ernte eine Ohrfeige.

      „Versuche gar nicht erst zu erraten, wie oft ich solche dummen Sätze schon gehört habe, meist aus zutraulich