Die Wölfe von Pripyat. Cordula Simon. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Cordula Simon
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783701746774
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nun, in den Monaten vor der Wahl, noch ein Like-Package kaufen. Soll der Log eine Auswahl zusammenstellen? Dann ließe sich der Schnitt in nur wenigen Wochen ermitteln. Sandor gab die Funktion frei. Es schmeckte ihm nicht. Das bedeutete eine lange Liste mit möglichen Like-Packages von Firmen, Parteien und Netzbetreibern war in seiner Inbox. Er würde die Liste später durchgehen. Er hatte einer Ersetzungsfeier beizuwohnen.

      Sandor stellte fest, dass Franks Wohnung das Gegenteil seiner eigenen Wohnung war. Wo Sandor sich für helle Töne entschieden hatte, weiße Wände, weiße Möbel, weiße Teppiche, hatte Frank den gegenteiligen Weg eingeschlagen. Düster glänzte die schwarz-goldene Tapete auf sie herab. Frank und seine Frau Soligie saßen vor einem Sofatisch aus schwarzem Marmor, sie streichelte beständig sein Knie. Soligies schwarzes Kleid ließ sie fast unsichtbar werden. Dazu der schwarze Kurzhaarschnitt. Sie war ein schwebendes Gesicht. Die schwarzsamtenen Vorhänge hatten das ganze Sonnenlicht ausgesperrt, obwohl es draußen noch heller Tag war. Neben ihnen auf dem Tisch lag ein Stoffsack mit einem Elefanten darauf. Soligie kippte ihn um und Frank griff nach einem der kleinen weißen Körner, zerdrückte es mit dem stumpfen Ende seines Messers und zog es die Nase hoch. Frank hatte die Erlaubnis, ein Messer zu tragen, obwohl er es nicht brauchte, weder beruflich noch privat. Er hatte wohl nur wissen wollen, ob man sie ihm erteilen würde.

      Sandor begrüßte sie mit einer Handbewegung. »Sando, Sando, Sando!«, rief Frank. »Nimm dir ein Reiskorn!« Sandor schüttelte mit einem höflichen »Nein, danke« den Kopf. Hinter einer Theke sah er Trashalong, die ihn nun auch bemerkte und giftig anstarrte. Sandor hatte nicht gewusst, dass sie einander kannten, aber vielleicht war sie auch nur mit Soligie befreundet. Soligie war bekannt dafür, zwischen den Ufern zu schwimmen.

      »Du solltest es probieren. Das ist A-Klasse Reis«, bot ihm Frank abermals ein Korn an, aber Sandor schüttelte den Kopf: »Ich habe nie –«.

      »Dann erst recht«, erwiderte Frank, doch: »Ich weiß nicht welche«, sagte Sandor, worauf Frank: »Ach so, natürlich: Es ist wie ein großes Déjà-vu. Das Déjà-vu eines ganzen Lebens. Du zerstampfst es und lässt die Nanopartikel in deinem Gehirn einfach machen.« »Sie sind A-Klasse«, wiederholte Soligie und erläuterte: »Sie stammen von Menschen, deren Logs aufbewahrt wurden, weil sie noch einmal leben wollten.« – »Oh«, sagte Sandor knapp, überlegte und meinte dann: »Aber nehmen wir ihnen damit nicht die Chance, dass sie tatsächlich wieder leben könnten?« Aber Frank begann nur zu lachen und erzählte dann, dass das wohl nie passieren würde, denn man habe erst kürzlich aufgrund einer Erbstreiterei den Stent eines Verstorbenen einfach in einen Hirntoten implantiert, damit man ihn fragen könne, was mit seinem Reichtum geschehen solle. »Was hat er gesagt?«, fragte Sandor. »Gar nichts«, meinte Frank, »er kotzte, stand auf, griff nach dem Revolver des anwesenden Vollzugsbeamten und erschoss sich. Ein anderer soll sich selbst den Stecker gezogen haben. So ist das, das menschliche Gehirn ist ein Mysterium. All diese Gefühle, all diese Erinnerungen«, lachte Frank und sein Kopf schwankte. Er legte einen Arm um Sandors Schulter: »Ach, Sandor, ein Ehrenmann. Wenn er unglücklich ist, trinkt er, damit der unglückliche Moment nicht allzu schnell verschwindet, und am nächsten Tag hat er all das schöne Unglück weggesoffen.« Kata reichte Sandor ein Glas Wodka. Sandor kam sich ahnungslos vor. Als hätte ihn der Log mit der Wahlinformation nicht schon ausreichend auf seine angebliche Uninformiertheit hingewiesen. Er wusste nur, dass Reiskörner nicht legal waren.

      »Gratuliere zu deiner Ersetzung«, sagte Sandor und prostete Frank zu. Frank trank immer aus Gläsern. »Ja«, lachte dieser, »der Aufrichtige Äther wird auf mich verzichten müssen. Der unverbogene Äther.« Er kicherte. »Wodurch wirst du ersetzt? Hat man deinen Programmplatz einem anderen zugewiesen?«, fragte Sandor, doch Frank prustete los und mit ihm der halbe Raum. Frank ließ sich auf das Sofa fallen: »Ich habe mich selbst ersetzt. Der Puppenspieler ist eine Puppe. Schon seit Wochen.«

      »Aber wir haben doch gestern …«, Sandor stutzte und Frank lachte wieder: »Schon seit Wochen. Du hast mit Kasimir Stern Kreide AchtPunktNull gesprochen. Ich habe mich selbst ersetzt.« Sandor nahm einen großen Schluck. Er hatte nicht gewusst, dass so etwas möglich war. »Siehst du, Sandor, ich bin ein wenig enttäuscht. In den letzten Wochen endete die Sendung nämlich nicht damit, dass ich den Hut lüfte, sondern AchtPunktNull die Hirnschale. Hättest du meine Sendung je gesehen, wüsstest du das.« Sandor schämte sich ein wenig. Frank war einfach unglaublich gut. Wenn er einen Automaten baute, dann war auch dieser unglaublich gut. Diese Fähigkeiten hatten ihm das Startkapital, das er im Zufallsverfahren auf den Finanzmarkt warf, verschafft, und Frank war reich bis ans Ende aller Tage. Frank konnte blind Schach spielen. Nach Sandors Meinung war Frank ein Genie, auch wenn er sich zu gerne selbst reden hörte. Er sagte stets, es gebe nur zwei Arten von Menschen: eins und null. Sandor fühlte sich gerade wie eine Null. »Ach, Sando, setz dich«, Frank klopfte mit der Hand neben sich auf die Sitzfläche, »ich mag dich, Sandor, und ich sage das nicht, weil ich gerade auf Erinnerungen bin, die nicht im Trend sind, ich mag dich, weil du so widerständig bist, weil du alles anzweifelst. Sandor, Sandor, Sandor, wer nicht scrollt, ist nicht am Laufenden und …« – er hickste – »… ihr müsstet ja alle erst dekonstruiert werden und rekonstruiert? Rekonstruiert vielleicht nicht. Postbiologie ist das. Und morgen, liebe Kinder, dekonstruieren wir das Wetter!«

      Franks Kopf rutschte an Sandors Rücken hinab. Soligie zuckte mit einer Schulter und einer Augenbraue: »Das passiert, wenn man akademischen Reis einwirft. Er weiß selbst nicht, was das heißen soll, wird sich den restlichen Abend nicht mehr bewegen und morgen erinnert er sich nicht.«

      »Das tut mir leid für dich«, sagte Sandor, und nun hatte sich Trashalong auf einem großen, runden Lederhocker niedergelassen: »Du sollst doch nicht über Sex reden. Das exkludiert die weniger Beglückten. Oder hast du ein Juste Milieu-Korn abgekriegt?« Sandor sah sich um. Er verstand nicht, warum er damit gleich zum Juste Milieu gehören sollte. Er hatte doch noch gar keinen Reis eingeworfen. Er wusste doch gar nichts über das Juste Milieu, nur, dass sie sich eben gerecht nannten, aber er wusste nicht, was sie wollten oder taten. Einfach eine neue Gruppe von Menschen, die mit irgendetwas unzufrieden waren. Aktivisten, aber keine Aktivisten der Union, so viel wusste er. Frank lachte: »Nein, nur Juste!«

      »Du wirst deine Rechnung schon serviert bekommen. Die Aufklärung hat dich auch nie gestreift. Mit diesem Verhalten kann man nicht lange durchkommen. Ein Ideologe bist du, der Feind der Denkenden«, schnappte Trashalong Sandor an.

      »So habe ich das doch nicht gemeint«, versuchte er sich mit einer hilflosen Handbewegung zu verteidigen.

      »Es ist völlig egal, wie du es gemeint hast. Du weißt eben nicht, was diese Dinge für andere bedeuten, was dich nur noch mehr zu einem Ideologen macht: Du machst unterbewusst Annahmen und solltest solche Dinge nicht einmal denken«, fuhr sie fort. Soligie sah zu Boden.

      »Emotional«, knurrte Frank.

      »›Emotional‹ sagt man nicht«, rief Trasha.

      »Bauchgerede dann«, lachte Frank, ohne den Mund aufzumachen. Natürlich konnte er auch bauchreden, typisch.

      »Warum sagst du denn nichts?«, fuhr Trashalong jetzt Soligie an und sprang auf, rauschte geradezu aus dem Raum, wahrhaftig ein Rauschen, ihre Kleidung brauchte akustisch nahezu so viel Aufmerksamkeit wie sie selbst, und rief noch: »Es gibt einfach keine kosmische Gerechtigkeit. So ein Hater!«

      »Und sie so ein Opfer. Die war wahrscheinlich auch Friedensstifter-in in der Schule«, nuschelte Frank hinter ihm. Sandor war froh, dass ihn offenbar niemand gehört hatte. Stattdessen begann jetzt einer über den Rechtsstreit wegen der »morphologischen Freiheit« zu referieren. Frank lächelte vor sich hin und Sandor hob den Kopf seines Freundes an und bettete ihn auf seinem Schoß zurecht. Frank kannte sich mit allem aus. Na, Frank: Darf der Mensch sich so viele Ersatzteile anschustern, wie er will? Selbstverbesserung als menschliche Natur? Sollen die Teile mechanisch oder fancy gezüchtet werden? Aber Sandor fragte Frank nicht, denn Frank mochte zwar Antworten auf alles haben, aber er war auch erschöpft, lebensfroh und tätigkeitsmüde. Sandor ließ ihn in Ruhe. Schließlich hatte Frank nicht vor, an sich selbst etwas auszutauschen, also war es ihm herzlich gleichgültig. Frank drehte sich auf den Rücken, damit er Sandor ansehen konnte: »Und was soll Trashalong überhaupt für ein Name sein? Was für ein Typus muss man sein, seine mediale Persona