»Was ist daran falsch? Hätte ich ›Experte‹ sagen sollen?«, fragte Sandor verwirrt. Aber Kata glaubte eher, dass Trasha es ironisch aufgefasst hatte. »Wenn du sie einmal eine Expertin nennst und sonst nie, sagst du damit nur, dass sie in Wahrheit keine ist.« Sandor schüttelte den Kopf. »Die Zuschauer sagen in den Foren oft ›Experte‹, wenn sie ›Scharlatan‹ meinen. Wir sollen ehrliche Sprache benutzen, wenn wir auf Sendung sind, das weißt du doch. Bedürfnisgerecht für die Programmgenießer.« Kata zuckte mit den Schultern, nippte an ihrem Kaffee. Sandor fühlte sich schuldig und bestellte einen Whiskey. Der Kellner stellte einen kleinen Verdampfer mit Mundstück vor ihm auf den Tisch. Er hätte lieber ein richtiges Glas gehabt und fühlte sich daher noch schuldiger als zuvor. Er vermisste die Zeit, als die Welt noch nach Welt roch und nicht aus jedem Winkel Dampf kam, von Verdampfern auf Tischen und Kommoden, aus den neuen Blumenvasen, getarnt als dicke, kleine, weiße Buddhas. Sogar aus den Hauswänden dampfte es nach Zitronenbuttermilchkuchen, nach Kaffee und Südfrankreich.
7Börger
Im Jahr 1016 des Konsuls
Kein Signal.
»Warum sollte ich dabei mitmachen?«, hatte Emma Potz entgegengehalten. Sie sah keinen Grund, das Lager zu verlassen. Nun jedoch war das anders. Man hatte die Administrationshilfe gefunden, wusste nicht, wie sie gestorben war, nur dass ihr Gesicht verbrannt war, verkohlt geradezu, und dass das die einzige Verletzung zu sein schien. So hatten sie es zumindest als Lokalnews zugestellt bekommen. Jemand hatte eine Waffe ins Lager gebracht. Jackie wippte auf dem Bett vor und zurück. »Chillamoi« war das Wort, das sie seither am häufigsten sagte. Bald würde man beginnen, jene zu befragen, die zu dieser Zeit nicht zum Essen gelogged waren. Jackie, Gruber und sie. Jackie war keine Mörderin.
»Wir wissen nicht, was mit Jackie passieren wird«, sagte Potz ruhig. »Und was glaubst du, was die sich zusammenrendern werden? Wer war nicht beim Essen? Du«, auch das sagte Potz mit einer Ruhe, als wäre er von vornherein sicher, dass sie mitmachen würde.
Der Großteil der Mühe sei schon getan, hatte er gesagt. Emma blickte zur kleinen Uhr oben auf der Bildfläche ihres Geräts. Alles, was nicht digital war, war hier aus Bäumen gebaut. Letzte Nacht hatte sie geträumt, dass Insekten aus dem Moos beschlossen hatten, in ihrer Nase leben zu wollen. Sie schüttelte sich. Der virtuelle Wald war ihr lieber. Sie hatte sich für jenes Gerät entschieden, das von der Tür aus am wenigsten einsehbar war, damit ihre Tätigkeit den Blicken entging, sollte noch jemand den Computerraum betreten. Sie hoffte, alleine zu bleiben, schließlich hatten die wenigsten »Gäste« eine Erlaubnis, die Geräte zu benutzen. Sie drehte den kleinen weißen Bauern, den ihr Gruber gegeben hatte, zwischen den Fingern, streichelte über die kleine Kugel. Erster Zug: Sie musste das Gerät herunterfahren und das System von diesem Datenträger aus neu booten. Wie er ihn ins Lager geschmuggelt haben mochte, wollte sie gar nicht wissen. Alle Taschen mussten geleert werden, bevor man durch die Tür ging, die selbstverständlich eine Scanfunktion hatte. Ob er ihn unbeschadet über die Magnetschwelle gebracht hatte, würde sie jetzt herausfinden. Wenn die Daten zerstört waren, wäre es ohnehin schnell vorbei.
»Von dem Betriebssystem aus, das sie haben, kannst du nicht dorthin, wo wir hinwollen. Nicht unbemerkt. Die History zu löschen, reicht nicht.« Das hatte Potz gesagt. »Es wird sein, als hättest du gar nichts getan«, flüsterte sie sich selbst zu. »Als wärst du regungslos vor dem ausgeschalteten Gerät gesessen. Hoffe ich.«
»Hör zu, du kannst nicht einfach einen sicheren Browser auf deren Gerät installieren. Es würde auffallen, also verwendest du das System auf dem Datenträger, da ist sicher einer drauf.« Welche Taste musste sie drücken, wenn es hochfuhr? Emma sah sich nervös um, sie konnte sich nicht erinnern, auch wenn Potz es die ganze Nacht lang immer wieder mit ihr durchgegangen war. Sie drückte einfach die ganze obere Reihe Tasten eine nach der anderen. Das Menü erschien, in dem sie den Datenträger anwählen konnte.
»Du musst die Adresse richtig eintippen«, sagte Potz, »diese Seite findet das Gerät schließlich nicht alleine.« Sie musste zu der Seite, auf der sich das Personal des Lagers anmelden konnte, um Namenslisten zu erstellen, Ausflüge oder Kurse zu organisieren. Entlassungen. Entlassungen. »Noch einmal«, hatte Potz gesagt. Die Adresse der Seite hatten sie die halbe Nacht geübt. Zu viele Punkte und Schrägstriche, zu viele Zahlen. Dabei hatte sie dafür doch kein Gedächtnis. »Noch einmal«, hatte Potz gesagt und: »Das muss«, weil sie wieder einen Doppelpunkt vergessen hatte. Das war unfassbar mühsam. Sie hatte noch nie eine Adresse auswendiglernen müssen. Sie hatte immer alles den Log suchen lassen und der Log fand alles. »Du willst nicht, dass der Log die Adresse für dich sucht, sonst weiß der Log, dass du sie gesucht hast, und damit wird es auch die Lagerleitung wissen.« Du bist der Bauer, sagte sich Emma. Ihre Augen brannten. Immerhin durfte sie am Computer ihre Brille tragen, aber für eine Umgewöhnung war keine Zeit. »Was meintest du, als du gesagt hast, dass es Onlineverbindungen nicht mehr gibt?«, fragte Emma endlich.
»Irgendwann gibt es das Netz nicht mehr«, wiederholte Potz.
»›Netz‹ sagt man nicht«, murmelte sie und sah ihn erwartungsvoll an.
»Irgendwann wird es einen Sturm auf der Sonne geben und der Magnetismus wird die gesamte Elektronik lähmen«, sagte er und fragte: »Warum sagt man ›Netz‹ nicht?« Sie überlegte, konnte sich aber nicht erinnern. »Irgendwann?«, fragte sie schaudernd. Ein unschöner Gedanke.
»Irgendwann«, antwortete Potz.
»So wie der Komet, der uns alle erschlägt?«, grinste sie nun. Der war schließlich auch nie gekommen. Potz antwortete nicht.
Die Betreuungsperson im Trainingsanzug betrat den Internetraum. Er konnte die Bildfläche von der Tür aus nicht einsehen. Er nickte Emma kurz zu, ging wieder nach draußen. Sie atmete durch. Die Zahlen auf der Bildfläche sprangen um. Sie hatte nur eine halbe Stunde. Der Großteil der Mühe sei schon getan. Potz hatte nur die dümmste Person in der Lagerverwaltung finden müssen. Sie hielt ihre Hand vor den Scanner. Wenn Potz recht hatte, dann würde die Software sie fälschlicherweise als Lagerpersonal identifizieren. Der kleine Kreis drehte sich, piepte. Vorname-Punkt-Nachname-Punkt-Lagernummer-ät-Untermuerbwies-Punkt-Log-Punkt-Or. Dann eine beliebige Wortfolge anstatt des Passwortes. »Sie haben Ihr Passwort vergessen?«, erschien auf dem Schirm. Noch ein paar Klicks. Die Zahl am Bildflächenrand war ganze zwei Ziffern weitergesprungen. Wie konnte sie so lange für die Adresse gebraucht haben?
Sie müsse sich nur weiterklicken, hatte Potz gesagt. Sie müsse nur so lange »weiter« klicken, bis die Sicherheitsfragen kamen. Eine richtige reichte. Eine richtige Antwort. Sie sagte das Geburtsdatum der Person, die Potz ausgesucht hatte, vor sich her. Das war einzugeben und dann kamen die Fragen. Die Ziffern der Zeitanzeige hüpften schon wieder. Die Verbindung war langsam. Schach.
Emma kannte die Person nicht, deren Namen in der Mailadresse war, die sie hier benutzte. Sie war erst einen Tag hier. Die Betreuernamen hatte sie sich nicht gemerkt. Diese Person würde vermutlich auch Probleme bekommen.
»Ist mir egal«, hatte Potz darauf geantwortet. Er hatte sogar den Müll der Frau durchwühlt. Mehrfach. Geburtstagsbillets. Alle mit Datum, ein ganzer Stoß. Emmas Mutter meinte immer, dass es sich nicht gehöre, so etwas wegzuwerfen. Alles, alles wusste Potz. Alles über diese Person. Dass man ihn dabei nicht erwischt hatte, grenzte an ein Wunder. Anneliese Krüger. Lieblingsstadt Rom, Lieblingsfilm »Daytime Vampire Dance«, letzte Reise, Automarke, Reihenfolge der Haustiere und deren Namen. Fische, Springmäuse, Zwergpinscher. Kein reinrassiger, so Potz, Emma biss sich auf die Zunge. »Man geht einfach so lange durch die Mülltonnen, bis man alles weiß, was gefragt werden könnte. Man muss die Müllmaschinen eben vorher sabotieren.« Potz hatte die Augen geschlossen, zählte wieder auf. Ging nochmals durch die Mülltonnen. Und Emma sollte sich das merken. »Können wir es nicht