Sandor fühlte, wie etwas Fremdes durch seinen Kopf streifte, sich wie eine Wolke, wie eine Flüssigkeit, wie ein Tintenfleck ausbreitete, immer dünner werdende grüne Tinte überall in seinem Kopf. »Was ist«, fragte er Frank, »wenn du eine Maschine baust, die so intelligent ist, dass sie noch viel intelligentere Maschinen bauen kann?«
»Ein Globalgehirn«, lachte Frank.
»Eine Singularität«, sagte Sandor, ohne das Wort selbst jemals gehört zu haben und ohne auch nur instinktiv zu verstehen, dass es das Gleiche bedeutete wie Globalgehirn. Da redete sein Reiskorn. »Und dann lernt die Singularität so viel, dass sie alles weiß und unsere Telomeres lang, lang, langzieht«, fuhr er fort.
»Telomeres?«, fragte Frank, richtete sich auf, griff nach Sandors Glas, nahm einen großen Schluck.
»Sie sitzen auf Chromosomen und machen ein langes Leben, wenn sie lang sind. Sie sind kurz bei uns. Frank, wir sind alt. Alte Säcke sind wir. Ich bin zu alt für diesen Log und das alles.«
»Ach, Unsinn«, Frank kniff ihn in die Wange. »Wir würden einfach alles auf morgen verschieben, mit langen Telomeres, warum nicht, wenn es endlose Morgen gibt.«
Sie lachten beide. Kata kam näher, setzte sich neben Sandor: »Worum geht es?«
»Dass wir alte Säcke sind, Kata«, sagte Sandor, aber sie schüttelte den Kopf: »Ihr seid beide Mitte dreißig. Und neunzig Prozent der Zeit völlig hilflose Babys obendrein.«
Soligie nickte zustimmend. »Aber ich mag ja gar nicht mehr leben, wenn die Singularität die Welt beherrscht«, sagte Sandor und Kata schaute ihn skeptisch an.
»Oder der Log«, meinte Frank.
»Böser Log, pfui«, sagte Sandor, er lallte bereits deutlich, er vertrug einfach nichts. Den Log personalisieren? fragte der Log ihn wieder.
»Aber vielleicht ist ja nichts echt und wir sind nur die historisch korrekte Simulation der Vergangenheit von Aliens. Aufgezeichnete Gehirnimpulse und ein bisschen Phantomatik und da ist das Zeitgefühl ein ganz anderes. Sandor! Sandor! Vielleicht sind wir in einem Virtuali und unsterblich!«, rief Frank.
Da erhob sich Sandor und brüllte, aber heraus kam eine schrille weibliche Stimme, die brüllte in Trashalongs Richtung: »Eleonora!« Sandor war aufgebracht und wusste nicht warum, schrie immer wieder: »Eleonora!«.
Er taumelte auf einer Steinfliese, versuchte, das Gleichgewicht zu halten, um ihn waren Schwärze und Kosmos, so war er gestrandet auf einer Fliese, zu klein für seine Füße und nass. Badezimmernass, dachte er und kippte, und der Boden bewegte sich unter seinen Füßen, als formten die Fliesen den Weg selbst. Er hielt nicht an, um sich darüber zu wundern. Er sah, was übrig war vom bröckelnden Gemäuer eines steinernen Prunksaals, seine Füße auf mehr und mehr Marmor. Da war jemand. Hatte der den Einsturz überlebt? Sandor konnte die blauen Flecken und Schürfwunden am Körper spüren, er würde rennen müssen. Ein Stuhl fiel neben ihm vom Himmel.
Gelähmt klebte er in den Sofakissen. Er empfand einen Rausch von einer Intensität, die nicht nur die lebensechten Erfahrungen im Virtuali weit überstieg, sogar das Töten, sondern mitreißender als das Leben selbst war. Es fühlte sich nicht an, als blicke man aufs Meer, nicht – wie im Virtuali –, als schwimme man im Meer, was in der Realität kaum mehr möglich war, sondern als sei man das Meer: wuchtig, brausend, Landschaften zerschneidend. Eine Naturgewalt. Die weibliche Stimme begann zu zetern: »Morphologische Freiheit ist das Recht auf Selbstbestimmung. Wir sind die unumstrittenen Eigentümer unserer Körper, wir entscheiden selbst über unsere Veränderungen! Allen Menschen soll sie uneingeschränkt zur Verfügung stehen. Für Chancengleichheit und Gerechtigkeit. Wir sind keine Zauberer oder Formwandler, wir wollen eigenverantwortlich entscheiden!« Als hielte Sandor eine Rede vor einer großen Menschenmenge, schmetterte er die Worte in den Raum, einige Partygäste kicherten, erkannten, dass es die Wirkung des Reiskorns war, amüsierten sich darüber, dass Sandor keine andere Wahl hatte, als zu sagen, was das Reiskorn verlangte, während sein Körper mit den Empfindungen kämpfte, dass seine sonst warmen Hände zugleich kalt waren, er sich klein fühlte, obwohl er groß gewachsen war, dass er sich selbst kaum hören konnte. »Wir haben eine neue Spezies erschaffen!«, brüllte die Reiskornfrauenstimme und Sandor echote mit ihr. Er brüllte es in einen großen, leeren Saal mit glitzernden Vorhängen. Betäubt von der Größe der Umgebung, der Wucht der funkelnden Wände, wankte er, hob den Kopf, sah die Deckenfresken und einen enormen Luster, glitzernd, wankend wie er, und er fiel zurück, fiel, fiel, wartete darauf, hart auf die steinernen Fliesen zu knallen, den Hinterkopf aufknackend wie eine Kokosnuss.
»Eine Spezies, die uns trennt und teilt und beurteilt und mit Wut füttert, damit wir die Wut anwählen, auf die Wut klicken, der Wut folgen, deren Seiten vollgestopft mit Werbung sind und über unsere Welt entscheiden! Wir sind Wut!«, krächzte Sandor und plumpste in das Sofa zurück. Dann fühlte er ein Rauschen in den Ohren und wachte auf seinem weißen Sofa in seiner eigenen Wohnung erst dann wieder auf, als Kata den hustenden und prustenden Kaffeeautomaten einschaltete.
11Der Blitz schlägt immer zweimal ein
Im Jahr 1016 des Konsuls
Kein Signal.
Beim ersten Donner sackte Jacqueline in sich zusammen und weigerte sich weiterzugehen. Gruber fing sie auf. Der magere Gruber zerrte die ebenso magere Jackie an den Armen hoch, die Erdanziehungskraft entschied diesen Kampf zweimal, bevor er Jackie beim dritten Versuch endlich auf die Beine stellte. Sie wirkten in dieser Entfernung wie zwei tanzende Skelette. Sie hatten pünktlich die Regenmäntel angezogen. Gruber hatte den Wetterplan immer im Blick.
Emma war hinter den anderen hergestolpert, irritiert von den Geräuschen des Waldes, die so viel lauter und näher waren als dieser weit entfernte Donner, der Jackie niedergestreckt zu haben schien. Es glitchte, dachte sie, wie Jackie sagte, und hörte gar nicht mehr auf. Als schrie der Wald auf sie ein, so kam sich Emma vor. Sie durfte die anderen nicht aus den Augen verlieren, die Form eines Baumes und die Form eines Menschen waren in der Dunkelheit für sie einerlei. Sie stapfte, beständig testend, ob der moosige Boden sie auch trug, auf die beiden zu. Gruber hievte Jackie auf einen Baumstumpf: »Fräulein Jacqueline, wir müssen weiter«, sagte er und tatsächlich hob sie den Kopf. Natürlich, dachte Emma, würde Jackie auf ihre eigene Anachronismus-Macke reagieren. Gruber war wohl auch nicht der Dümmste. Jackie zerrte immer noch den schweren Rucksack mit sich herum, mit dem Sack Reis, den sie gestohlen hatte, als sei es ein Schatz. Sie betastete ihre Wangen. Stress schien bei ihr Pickel zu verursachen. Warum man ihr das nicht weggecrispert hatte, verstand Emma nicht. Jackie wanderte dahin, als wüsste sie genau, wo es langgeht, als könnte sie jeden Zweig auch in mondlosesten Nächten sehen.
Die Nadeln fuhren Emma ins Gesicht, sie kniff die Augen zusammen und fand Halt an einem Baumstamm. Sie war die Bewegung auf nachgiebigem Boden nicht gewohnt, so wie sie die ständigen kleine Stiche in die Wangen nicht gewohnt war. Erst jetzt, da sie endlich angehalten hatten, konnte sie sich umsehen. Jackie saß vor ihr, Gruber kümmerte sich um sie, über ihnen war ein wütender Himmel, aber Potz konnte sie nicht sehen. Sie drehte den Kopf, um festzustellen, ob er nicht doch an der Peripherie ihres Gesichtsfeldes auftauchte, irgendwo in den Augenwinkeln, wo alles schon so verschwommen war, aber egal, was sie fokussierte, es stellte sich als Baum heraus.
Jacqueline schüttelte den Kopf. »Du musst weitergehen«, sagte Gruber ihr immer wieder, aber sie schüttelte ohne Unterbrechung den Kopf: »Ich kann Sie nicht hören«, wiederholte sie. Emma wankte auf die beiden zu. Sie erkannte Gruber kaum, aber Jackie flimmerte manchmal, als zuckten Muster auf ihrer Haut, die wie kleine Tiere dahintanzten.
»Was ist mit ihr?«, drehte sich Gruber nun zu Emma und seine Stimme schreckte sie aus ihren Gedanken auf. Sie zuckte mit den Schultern: »Ich kenne sie erst seit gestern.« Emma hatte sich nie mit Lichtkindern befasst, warum sollte sie jetzt damit anfangen?