Die Wölfe von Pripyat. Cordula Simon. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Cordula Simon
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783701746774
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sprang Laika kläffend auf ihn zu«, begann Jackie. Und Gruber versuchte ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen: »Schauen Sie mich an, Fräulein Jacqueline«, Gruber war ein sanftmütiges Tier. Emma fand gerade mehr Wut in sich. Sie wusste nicht, warum sie mitgegangen war, warum sie die Flucht eingefädelt hatte, warum sie nicht darauf bestanden hatte, dass es einen vernünftigen Plan geben sollte. Vor ein paar Stunden hätte sie einfach wieder umdrehen können und niemand hätte es bemerkt. Sie hätte umdrehen können, ihre Zeit absitzen und so tun, als sei nichts gewesen.

      Sie hatte erwartet, bald wieder ein Funksignal zu bekommen, nachdem sie das Lager verließen. Ein derart großes Gebiet ohne Empfang hatte sie nicht erwartet.

      Sie hätte umdrehen können, anstatt hier mitten im Wald zu stehen, kurz vor einem Gewitter. Zwischen lärmendem Rascheln, Scheuern und Knacken, den Zweigen, die auf sie einschlugen, Windgeheul und einer Irren, die irgendeinen Mist über die alte russische Raumfahrt erzählte. Wen interessierte schon Geschichte? Sie stand endlich stabil genug, um ihre Hand von der Rinde des Baumes zu nehmen, nahm zur Kenntnis, dass ihre Hand klebte, und hätte Gruber und Jackie am liebsten angebrüllt, aber sie wusste natürlich, dass es weder Jackies noch Grubers Schuld war, dass sie nur getan hatten, was Potz sagte. Sie hätte einfach ein anderes Datum zur Entlassung einstellen sollen. Sie könnte sich schwarzärgern. Sie biss sich schon wieder auf die Zunge. Und sie konnte Jackie plötzlich verstehen. Vielleicht war es ja doch das Vernünftigste, zu kapitulieren. Einfach stehen zu bleiben und zu warten, bis sie wieder eingesammelt würden. Es war ja egal. Was können sie denn schon groß mit dir machen? Die Zeit im Lager verlängern? Sie waren ja alle noch minderjährig. Sie hätte ohnehin nicht gewusst, wo sie in der echten Welt hinsollte.

      Gruber kniete sich vor Jackie: »Fräulein Jacqueline, wir müssen weitergehen. Erinnern Sie sich? Wir gehen nach Osten. Hören Sie, Fräulein Jacqueline? Nach Osten, bis wir die Goldene Stadt gefunden haben.« Jackie hing an Grubers Lippen, und einen Augenblick lang war es ganz still zwischen beiden, da rief Jackie: »Ich kann Sie nicht hören!« – »Schschsch! Die Goldene Stadt«, redete Gruber erneut auf sie ein und wieder starrte sie auf seine Lippen: »Kein Lager, nur wir und die idealen Gegebenheiten. Die Geisteszuflucht.«

      Emma schnaubte: »Goldene Stadt?« Ein Verschwörungstheoretiker. Das hat gerade noch gefehlt. Trifft eine Irre einen Verschwörungstheoretiker im Wald. Emma hatte von der Goldenen Stadt und dem Goldenen Reich gehört. Wie alle davon gehört hatten. Weit weg von der Toleranzunion. Eine Erfindung von ein paar Irren, die ja achsogeheim ist und achsoschwer zu finden, kurzum: die nicht existierte. Der geheime Standort des Paradieses. Alle Angaben waren etwa so belastbar wie damals, als Menschen sich nicht impfen ließen, oder glaubten, die Erde erwärme sich nicht. Oder war es umgekehrt? Dass die Menschen sich impften und die Erde abkühlte? Sie wusste es nicht mehr. Manche glaubten das heute noch. Wir leben noch, also gibt es keine Klimaveränderung, dabei hatte der Log die Temperatur geregelt.

      »Jede Zeit hat ihren Hoffnungsort«, flüsterte Jackie vor sich hinstarrend, als könnte sie Emmas Gedanken lesen.

      Gruber hielt Jackies Gesicht zwischen den Händen und redete auf sie ein, ruhig und monoton, von den allumfassenden Verbindungen und immer wieder Namen einstreuend von Kopftätigen, die doch längst nicht mehr lebten, die man nicht gespeichert hatte, als die Legende der Goldenen Stadt das erste Mal aufkam. So etwas gibt es heute gar nicht mehr, geschweige denn die Sicherungen der Originale.

      »Und jeden Abend ein heißes Bad«, sagte Gruber. Jackie war ruhig, sie schien abzuwarten, bis er tatsächlich fertig gesprochen hatte. Zumindest rief sie nicht mehr, dass sie ihn nicht hören könne. Wieder rollte ein Donner durch den Wald, aber Jackie blieb ganz ruhig, als hätte sie dieses Donnern gar nicht wahrgenommen, und lächelte weiter Gruber an. »Das muss«, lächelte sie. Wenn sie diesen Unsinn gehört hatte und auch noch glaubte, dann war sie noch verrückter, als Emma gedacht hatte. Was manche sich so in ihren Köpfen zusammenrendern.

      »Es ist, nebenbei bemerkt, gar nicht so unwahrscheinlich, vom Blitz getroffen zu werden«, begann Jackie mit ihrer schwebenden Stimme, »auch wenn man sich das erst mal vorstellen muss, dass der Blitz von all den Stellen auf diesem Planeten, wo er einschlagen könnte, ausgerechnet meinen Körper wählt. Auch wenn er natürlich nicht wirklich wählt, sondern zufällig zu mir kommt. Den Zufall stört es nicht, nennt man ihn Schicksal. Es ist wahrscheinlicher, vom Blitz getroffen zu werden, als bei einem Terrorakt zu sterben. Dieser Berg dort hinten wird gewiss einmal die Woche vom Blitz getroffen.« Emma blickte in die Richtung, in die Jackie schaute, konnte aber nur Bäume sehen. Und mit denen, dachte sie, hat Potz mich hier alleine gelassen.

      Emma kniff die Augen zusammen. Da waren kein Mondlicht, keine Stadt, keine Straßenlaternen, nur entferntes Wetterleuchten. Als schwebte es hoch oben über ihnen. Die ersten Tropfen fielen.

      So standen sie da, zu dritt, und Emma fühlte sich überfordert, hier in Ermangelung von Alternativen die Rolle der Erwachsenen zugewiesen zu bekommen. Mit Dumm und Taub im Wald. Emma rieb sich die Augen. Dumm, Taub und Blind. Wären sie nicht davongelaufen, dann könnte sie jetzt im Bett liegen und ihre Augen könnten sich ausruhen. Davongelaufen, ein Wort für kleine Kinder.

      »Alle Kirchtürme haben Blitzableiter«, geisterte Jacquelines Stimme weiter, »sie vertrauen darauf, dass der Blitz immer und immer und immer wieder einschlagen wird, bis ans Ende aller Zeiten. Dass ein Blitz nie zweimal an einem Ort einschlagen würde! Welch ein Irrtum! Warnschilder auf hochliegenden Wanderwegen werden gemalt. Und dieser Berg dort hinten wird gewiss einmal die Woche vom Blitz getroffen.«

      Jackie war also nicht gerade einsatzbereit. »Was sie mit ihr gemacht haben, ist auch nicht gesund«, murmelte Gruber. Damit hatte er immerhin recht: So eine jämmerliche kleine Elfe bekam man selten zu Gesicht. Gruber stand nahe bei ihr und schaute Emma erwartungsvoll an, bevor er wieder zu Boden blickte. Das glaubte sie zumindest, bis es hinter ihr knackte und Potz wieder auftauchte, und Emma begriff, dass der Blick ihm gegolten hatte. Potz, der einfach so wieder da war, als wäre nichts gewesen, und sich vor sie schob, sich vor ihr aufbaute, als gehörte ihm der Wald.

      »Wir hatten das nicht geplant. Wir hatten nicht geplant, im Regen durch den Wald zu marschieren, der Regen war angekündigt, der Regen selbst war das einzig geplante, genaugenommen hatten wir überhaupt keinen Plan. Wir hätten vorher besprechen sollen, wohin wir gehen«, begann Emma, aber er reagierte nicht darauf, sondern beugte sich zu Jackie hinunter und schlug sie. Das Donnergeräusch war nun wesentlich näher und Emma spürte einen Regentropfen wie einen schmerzhaften Stich, als Potz’ Handfläche auf Jackies Wange traf: »Reiß dich zusammen, Jackie.« Jackie starrte ihn an. »Sie glaubt, sie sei gerade vom Blitz getroffen worden, sie glaubt, sie ist taub von dem Knall, und sie glaubt, dass sie ihre Beine nicht spürt«, sagte Emma und fügte an: »Sie ist nicht aktuell vom Blitz getroffen worden.« Er hielt Jackie am Kinn. »Wie oft schlägt der Blitz ein?«, fragte er sie. »Mindestens zweimal«, murmelte sie, und er scheuerte ihr noch eine, während der Regen laut auf die Bäume herunterplatzte. Jackie stand endlich auf, stülpte ihre Jeansjacke von hinten über den Kopf und torkelte in Richtung einer mächtigen Tanne, um nicht noch nasser zu werden. Gruber und Potz folgten ihr. Sie begann, in ihrem Rucksack zu wühlen. Alle hatten Regenmäntel eingepackt.

      »Wo bist du gewesen?«, stieß Emma Potz mit der Faust in die Seite. Zwar war seine Methode, Jackie zu behandeln, ihr höchst suspekt, aber sie war trotzdem heilfroh, dass er wieder hier war. »Musste mich orientieren«, nuschelte er, während er sich auf den Boden hockte und in einen Müsliriegel biss.

      »Wir hätten planen sollen, wohin wir zuallererst gehen«, sagte Emma bestimmt.

      Potz grinste: »Gibt doch einen Plan.«

      Sie baute sich mit verschränkten Armen vor ihm auf: »Erhell uns bitte.«

      »Zuallererst gehen wir nach Südosten.« Er bemerkte ihre Irritation: »Das ist dort, wo der Berg ist. Wir warten nur den gröbsten Regen ab. Bei einem Gewitter wird uns dort niemand suchen. Der Berg wird mindestens einmal die Woche vom Blitz getroffen.« Er grinste sie an.

      Zwei Verrückte also, dachte sie. Er grinste immer noch. Das war also Untermürbwies: eine Sammlung Jugendlicher, die auf Verschwörungstheorien hereingefallen waren. Auf Verschwörungstheorien aus den Büchern der Erwachsenenabteilung. Verrecken würden sie