Die Wölfe von Pripyat. Cordula Simon. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Cordula Simon
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783701746774
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wie ein Hund. Nur die menschlichsten Wölfe ließen sich nicht zähmen. Er tätschelte dem Tier den Kopf und sie streiften über die Lichtung. Der Questgeber im Dorf hatte ihn beauftragt, das »ungewöhnliche« Tier, das hier wüten sollte, lebendig zu ihm zu bringen. Er müsste es untersuchen. Dann gäbe es einen Folgequest und Sandor könnte aufsteigen. »Ungewöhnlich« war nun nicht gerade eine präzise Beschreibung. Das hat man davon, dachte Sandor, dass man den Spieldesigner selbst die Quests schreiben lässt. Er wusste nicht, wonach er suchen sollte, also gingen sie spazieren. Der Wolf signalisierte ihm, dass er begann, hungrig zu werden, und Sandor entschied, ihm später ein Kaninchen zu fangen. Er genoss die frische Luft und das Geräusch des Laubs unter seinen Füßen, so streunten sie den halben Tag. Man könnte sich hier ein Paradies bauen. Da spitzte der Wolf die Ohren und beschleunigte seine Schritte in das Dickicht hinein, stets so, dass Sandor ihn gerade noch sehen konnte. Sandor bog einige Zweige beiseite und sah, wie zwei Männer in militärischen Uniformen, ihre Gewehre am Rücken, eine Kreatur, ein dunkelgrünes Etwas, aus dem Wasser eines kleinen Teiches an den Füßen aufs Ufer zogen. Ein ungewöhnliches Wesen, halb Mensch, halb Seegras. Ein schmaler Frauenkörper, schrill kreischend. Die beiden Männer zerrten die Kreatur an den Füßen, schleiften sie zu zweit über Laub und Zweige, mit dem Gesicht nach unten vom Ufer weg. Langsam, leise, griff er nach seiner Flinte, setzte an und mit lautem Knallen schoss er einem der beiden geradewegs in den Rücken, der fiel auf der Stelle um und ließ sie los. Sie drehte sich auf den Rücken, trat mit dem freien Bein nach dem anderen, der sie noch gut drei Meter weiterschleifte. Sandor sprang aus dem Dickicht und schlug dem Mann den Kolben seines Gewehres so fest er konnte ins Gesicht, einmal, zweimal, dreimal, viermal, bis von dessen Gesicht nicht mehr viel übrig war und er die Kreatur loslassen musste, die sofort wieder auf den Teich zukrabbelte. Sein Wolf versperrte ihr knurrend den Weg. Sandor stürzte sich auf sie, mit dem ganzen Gewicht seines Körpers. Sie zappelte, wehrte sich. Er sollte sie lebendig bringen, er würde sie zähmen müssen, sie trat ihm ein Knie in die Magengrube. Er würde sie unterwerfen müssen und presste sie mit aller Kraft zu Boden. »Ich könnte dich haben«, signalisierte er ihr. Er wusste gar nicht, ob es das Spiel zuließ, dass sie seine Erektion an ihrem grünen glatten Körper fühlte. Sogleich schämte er sich und versuchte, seine Hüfte ein Stück weit von ihr zu entfernen. Sofort trat sie wieder gegen seine Brust und schlug ihm mit dem Knie ins Gesicht. Der Wolf knurrte. Mit Wucht prallte sein Körper auf ihren, und er war zu schwer, als dass sie sich befreien konnte. Draußen in der Welt wäre er nicht mehr aufgestanden. Hier war er stärker. Es legte seine Finger so fest, dass es ihn beinahe selbst schmerzte, um ihr Handgelenk, holte das Seil aus der Tasche, das zu verknoten er im letzten Level gelernt hatte, verschnürte ihr die Arme hinter dem Rücken und wunderte sich keuchend, warum das Spiel ihn nicht endlich fragte, ob er mit der Kreatur sprechen wollte. Er sah sich um. Zwei tote Wilderer, er, der Wolf, immer noch kam keine Frage aus dem Spiel. Er lauschte, die Vögel zwitscherten. Die Sonne stand bereits tief, also knotete er das Ende des Seiles um einen Baum und schlug ein Nachtlager auf, der Wolf würde bis morgen auf sein Kaninchen warten müssen. Er stopfte seinen Rucksack unter den Kopf und schloss die Augen, um dem Spiel zu signalisieren, dass es zum nächsten Tag springen konnte, hatte jedoch Schwierigkeiten einzuschlafen, denn das Wesen starrte ihn ohne Unterlass an. Zu seinem Erstaunen erwachte er nicht vom Sonnenaufgang, sondern vom heimlichen Griff der Kreatur nach seinem Messer. Sie hatte es geschafft, den Knoten zu lösen, und als er die Augen aufschlug, sprang sie auf ihn zu. So mühsam hatte sich noch nie ein Quest gestaltet, dachte er, während er ihre Hand mit dem Messer über seiner Brust von sich fernhielt. Wie konnte so eine kleine Gestalt solche Kraft haben? Wo war sein Wolf? Gerade kippte sie mit all der Energie, die sie in diesen Messerstich gelegt hatte, nach vorne, gerade fuhr das Messer neben seinem Gesicht in den Waldboden, gerade konnte er ihren Atem auf seinem Gesicht spüren, da fragte das Spiel: Dem Tier erlauben zu sprechen? Und sie rollte sich keuchend neben ihm ins Laub. So spät, dachte er, fast hätte er verloren, während er auf die Schrift vor seinem Gesicht starrte, den grünen Körper aus den Augenwinkeln wahrnahm und wusste, sie würde noch einmal versuchen, auf ihn einzustechen. Bestätigen.

      »Ach, bist du hier Gott oder was?«, sprang sie auf. »Dem Tier erlauben zu sprechen«, äffte sie die Frage nach und fügte wütend hinzu: »Du hast gezögert, warum hast du gezögert?«

      Sandor war überfordert. Er war es nicht gewohnt, dass Tiere, die sprechen durften, so reagierten. Die meisten beschränkten sich auf »Danke«, schenkten ihm etwas oder fragten: »Wie kann ich zu Diensten sein?«

      Der Wolf saß gähnend mit blutverschmiertem Maul vor ihm, er hätte ihn doch noch füttern sollen. »Warum hast du gezögert?«, wiederholte sie mit seinem Messer wedelnd.

      »Ich habe nicht. Ich meine, ich wollte nicht. Schau mal, ich habe dich gerettet«, stotterte er vor sich hin.

      »Niemand kann irgendwen retten«, erwiderte sie leise schnaubend. Sie stapfte auf den Teich zu, als sei sie fertig mit ihm. Da erschien die Frage: Tier rufen? Sandor bestätigte und sie machte kehrt, widerwillig: »Das ist nicht dein Ernst?« Doch das waren die Regeln des Spiels. Ein sprechendes Tier war ein fast gezähmtes Tier, ein Tier, das man rufen konnte, und es würde kommen. Der Wolf gähnte immer noch. »Ich soll dich ins Dorf bringen«, sagte er.

      »Du sollst gar nichts«, sagte sie.

      »Ich sollte die ungewöhnlichste Kreatur dieses Waldes finden und sie ins Dorf bringen. Du bist die ungewöhnlichste Kreatur.« Er wusste nicht, warum er sich hier rechtfertigen sollte. Vor einem nackten Waldschrat. Ihre Haut glänzte im Dämmerlicht. In einem dunkleren Wald wäre sie fast unsichtbar. »Du weißt gar nichts über mich«, pfauchte sie. Er wusste, dass das in diesem Spiel nur eines bedeuten konnte: Du hast bereits alle Informationen, um diesen Quest zu erfüllen.

      »Ich werde dich zum Questgeber bringen«, sagte er und sie antwortete: »Ja, bestimmt«, als sei dies alles für sie erledigt. Was für ein widerspenstiges Geschöpf.

      Als die Sonne aufging, schulterte er seine Tasche, pfiff nach dem Wolf, pfiff nach dem Geschöpf und auch wenn sie zeterte, schritt er voran, zurück zum Dorf. Auf der Lichtung, deren Sonnenschein er am vorherigen Tag so genossen hatte, wurde der Wolf ganz aufgeregt, wedelte mit dem Schwanz und führte Sandor zu einem zerfetzten Kadaver. Dies war es wohl, was der Wolf letzte Nacht erlegt hatte, ein langer, schwarzer Wurm mit dem Gesicht einer steinernen Maske. Auch dieses Tier war höchst ungewöhnlich. »Ungewöhnlich« war keine gute Beschreibung, dachte Sandor wieder. Das sollte Kata geschrieben haben? Darf der Log auf Ihre Spiele zugreifen? fragte der Log, und die grüne Frau zuckte erschrocken zusammen, gerade, als er eine helle Glocke hörte: Kata stand wohl vor dem Virtuali, vielleicht hatte sie Lunchboxen geholt. Sie waren miteinander gelogged. Wenn sie es wollte, war sein Log auch hier nicht leise. Er seufzte. Er hörte Lyries Stimme draußen gedämpft »Mutter« sagen, auch er hatte seine Mutter nie Mama genannt. Sie war ihm wohl ähnlich. Die Wirklichkeit wollte ihn zurück. Sandor loggte sich aus.

      13Der Schlund

       Im Jahr 1016 des Konsuls

      Kein Signal.

      Niemand wurde vom Blitz getroffen, niemand ging verloren. Emma versuchte Jackies leuchtende Hände im Blick zu behalten. Als der gröbste Regen vorbei war, zogen sie ihre Regenmäntel über, nur Potz nicht, der das Wasser zu genießen schien, und marschierten los, durch das beständige, gleichmäßige Plätschern. Emmas Mantel war rot, Jackies war blau und Grubers gelb. Wie Zwerge im Wald, dachte Emma. Im Gehen summte Potz Melodien, die sie nicht kannte, und ihre Augen waren so müde, dass sie einfach nur mehr der Melodie hinterherstolperte, der Stimme folgte, und ein wenig glaubte sie, dass er nur ihretwegen summte. Erst als die Sonne schon hoch über dem Berg stand, machten sie Rast zwischen einigen Felsen. Sie packten ihre Müsliriegel aus, Potz fädelte Pilze auf ein Stück Draht, um sie über einem Feuer zu rösten. Emma wusste weder, wann er die Zeit gehabt hatte, sie zu sammeln, noch wie er das Feuer zustande gebracht hatte: Alles triefte vom Unwetter der vergangenen Nacht. Emma lehnte sich an einen Felsen. »Wir werden mehr Proviant brauchen«, sagte Potz, »wenn wir gegessen haben, werden wir dort unten auf den Lichtungen unser Glück versuchen, dann gehen wir weiter in diese Richtung.« Er deutete in die Landschaft, für Emma war es einerlei. Die ganze Welt war entweder zu nah oder zu weit entfernt, um sich zu orientieren.