2. Kapitel Europäisierung des Strafrechts › III. Anwendungsvorrang des Unionsrechts
III. Anwendungsvorrang des Unionsrechts
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Über diese unmittelbare Harmonisierung und Europäisierung des Strafrechts durch Einwirkung auf die Strafvorschriften erlangt das Unionsrecht eine Durchgriffswirkung auf das nationale Strafrecht. Grundsätzlich stehen nationales Recht und Unionsrecht sich zwar gleichrangig gegenüber. Soweit jedoch in der konkreten Anwendung ein Widerspruch zwischen mitgliedstaatlichem Recht und Unionsrecht entsteht, gilt der Anwendungsvorrang des Unionsrechts.[1] Das europäische Recht blockiert im konkreten Einzelfall die Anwendung des nationalen Rechts, wenn sie zu einem Widerspruch mit dem Unionsrecht führen würde. Insofern besteht auch keine Bereichsausnahme für das Strafrecht; sofern dieses in der Vergangenheit als Bastion des mitgliedstaatlichen Rechts gegen das Unionsrecht angesehen worden ist,[2] ist diese Auffassung unzutreffend, zumindest überholt.
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Das Unionsrecht entwickelt jedoch keinen Geltungsvorrang vor dem nationalen Strafrecht. Was dies bedeutet, wird an der Berlusconi-Entscheidung des EuGH[3] deutlich: In Italien waren entgegen ausdrücklicher unionsrechtlicher Vorgaben die Vorschriften über die Strafbarkeit der Bilanzfälschung durch nationales Gesetz aufgehoben worden. Dieses Gesetz verschaffte dem damaligen italienischen Ministerpräsidenten Straffreiheit. Die Generalanwältin gelangte in der Beurteilung der Rechtslage zu dem Ergebnis, dass das Gesetz zur Abschaffung des Straftatbestandes aus unionsrechtlichen Gründen unwirksam sei. Daher habe der nationale Straftatbestand weiterhin Geltung, so dass die Bilanzfälschung nach wie vor strafbar sei. Der EuGH hat dieser Auffassung widersprochen und einen solchen Geltungsvorrang abgelehnt. Zwar sei die Abschaffung des Straftatbestandes unionrechtswidrig; das ändere aber nichts daran, dass das italienische Gesetz, mit dem die Strafvorschrift aufgehoben worden sei, Geltung habe. Daraus folge, dass die Strafvorschrift des mitgliedstaatlichen Rechts nicht mehr existiere und daher eine Sanktionierung der Bilanzfälschung gegen den Grundsatz nullum crimen sine lege (vgl. hierzu auch Rn. 81 ff.) verstoße. Es entsteht lediglich eine Scheinkollision von Unionsrecht und nationalem Strafrecht, weil die hier relevante unionsrechtliche Richtlinie nicht unmittelbar gegenüber dem Bürger wirkt.[4]
Anmerkungen
Vgl. auch Sieber/Satzger/v. Heintschel-Heinegg/Satzger § 9 Rn. 39 ff.; Schönke/Schröder/Eser/Hecker Vor § 1 Rn. 28; ferner OLG München NJW 2006, 3588 ff.; OVG Münster NVwZ 2006, 1078 ff.; krit. zur Reichweite des Anwendungsvorrangs Rönnau/Wegner GA 2013, 561 ff.
Vgl. hierzu Kubiciel NStZ 2007, 136, 137 m.w.N.: Das Strafrecht ist, keine gemeinschaftsrechtliche Tabuzone.
EuGH EuZW 2005, 369, 372 – Berlusconi; krit. Wegener/Lock EuR 2005, 802 ff.; vgl. auch Wabnitz/Janovsky/Dannecker/Bülte Kap. 2 Rn. 251, 250 ff.
EuGH EuZW 2005, 369, 372 – Berlusconi; ferner Wabnitz/Janovsky/Dannecker/Bülte Kap. 2 Rn. 209 ff.
2. Kapitel Europäisierung des Strafrechts › IV. Unionsrechtskonforme Auslegung
IV. Unionsrechtskonforme Auslegung
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Der Auslegungskanon der vier klassischen Methoden ist im Strafrecht allgemein bekannt.[1] Doch neben die grammatikalische, die systematische, die historische und die teleologische Auslegung und die Kontrolle durch eine verfassungskonforme Auslegung tritt die unionsrechtskonforme Auslegung von Strafvorschriften. Diese führt dazu, dass Strafvorschriften – in den Grenzen ihres Wortlauts (Rn. 81 ff.)[2] – an den Zielen der Unionspolitik ausgelegt werden müssen. Das bedeutet, dass bei jeder Anwendung einer Strafvorschrift im europäischen Kontext eine richtlinien-, rahmenbeschluss- und gesamtunionsrechtskonforme Auslegung erfolgen muss.[3] Damit müssen bei der Interpretation von Strafgesetzen stets die Ziele und Politiken des Unionsrechts berücksichtigt werden, soweit sie für die Anwendung der konkreten Strafnorm Bedeutung haben können. Das stellt den Rechtsanwender dann vor eine besondere Herausforderung, wenn das Unionsrecht nur einen mittelbaren Bezug zum Strafrecht aufweist. Dies verdeutlicht insb. die Entscheidung des EuGH in der Sache Cowan,[4] in der es um Schadensersatzansprüche eines Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaates ging, der Opfer einer Straftat geworden war. Der EuGH hat hier deutlich gemacht, dass auch den Opfern von Straftaten innerhalb der Europäischen Union unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit die gleichen Rechte zustehen müssen. Das kann dazu führen, dass eine Vorschrift des nationalen Rechts, die bestimmte Rechte ausdrücklich nur für eigene Staatsangehörige vorsieht, über den Wortlaut hinaus unionsrechtskonform so ausgelegt werden muss, dass auch Angehörige von Mitgliedstaaten erfasst und damit berechtigt sind.
Anmerkungen
Ausführlich zur strafrechtlichen Gesetzesauslegung LK-StGB/Dannecker § 1 Rn. 291 ff.
Vgl. auch bereits Hugger NStZ 1993, 421 ff.; Dannecker JZ 1996, 869, 873, 878.
Zu den Einzelheiten Wabnitz/Janovsky/Dannecker/Bülte Kap. 2 Rn. 286 ff.; ferner Dannecker JZ 1996, 869, 871 ff.; Hugger NStZ 1993, 421 ff.
EuGH NJW 1989, 2183 – Cowan; ferner Rengeling/Middeke/Gellermann/Dannecker/N. Müller § 39 Rn. 38.
2. Kapitel Europäisierung des Strafrechts › IV. Unionsrechtskonforme Auslegung › 1. Richtlinienkonforme Auslegung
1. Richtlinienkonforme Auslegung
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Eine besondere Ausprägung findet die unionsrechtskonforme Auslegung in der richtlinienkonformen Auslegung, die dem Bürger die Berufung auf Richtlinien des Unionsrechts erlaubt.[1] Richtlinien können unmittelbare Wirkung auf das Strafrecht entfalten, wenn sie verbindlichen Charakter haben und hinreichend bestimmt sind. In der Entscheidung Kortas[2] hatte der EuGH deutlich gemacht, dass die Bestrafung des Importeurs eines mit einem in Schweden nicht zugelassenen Farbstoff gefärbten Lebensmittels nach schwedischem Strafrecht unzulässig sei, wenn der Farbstoff im Anhang einer europäischen Richtlinie als zulässig aufgeführt war. Dies gelte selbst dann, wenn die Kommission über den Antrag Schwedens, den Farbstoff