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2. Rahmenbeschlusskonforme Auslegung
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In der Entscheidung Pupino[1] hat der EuGH weiterhin ausgeführt, ein europäischer Rahmenbeschluss könne den einem Richter eingeräumten Entscheidungsspielraum dahingehend beschränken, dass er seine Entscheidung im Interesse der Umsetzung der Ziele des Rahmenbeschlusses und unter Berücksichtigung der Grundsätze des Unionsrechts (hier: Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und Recht auf faires Verfahren) zu treffen hat. In der Entscheidung mahnt der EuGH an:
Die Verpflichtung des nationalen Gerichts, bei der Auslegung der einschlägigen Vorschriften seines nationalen Rechts den Inhalt eines Rahmenbeschlusses heranzuziehen, endet, wenn dieser nicht so angewandt werden kann, dass ein Ergebnis erzielt wird, das mit dem durch den Rahmenbeschluss angestrebten Ergebnis vereinbar ist. Mit anderen Worten darf der Grundsatz gemeinschaftsrechtskonformer Auslegung nicht zu einer Auslegung contra legem des nationalen Rechts führen. Er verlangt jedoch, dass das nationale Gericht gegebenenfalls das gesamte nationale Recht berücksichtigt, um zu beurteilen, inwieweit es so angewendet werden kann, dass kein dem Rahmenbeschluss widersprechendes Ergebnis erzielt wird. [2]
Anmerkungen
EuGH EuZw 2005, 433 ff. – Pupino; Wabnitz/Janovsky/Dannecker/Bülte Kap. 2 Rn. 289.
EuGH EuZw 2005, 433 ff. – Pupino, Rn. 44.
2. Kapitel Europäisierung des Strafrechts › IV. Unionsrechtskonforme Auslegung › 3. Grenzen der unionsrechtskonformen Auslegung
3. Grenzen der unionsrechtskonformen Auslegung
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Die unionsrechtskonforme Auslegung im Strafrecht findet ihre Schranken zunächst in den Grenzen der Unionskompetenzen selbst. Daher kommt eine unionsrechtskonforme Auslegung nur soweit in Betracht, wie auch das anzuwendende Strafrecht der Durchführung des Unionsrechts dient. Insofern ist jedoch Folgendes zu beachten: Der EuGH versteht den Begriff der Durchführung von Unionsrecht in der Entscheidung Akerberg Fransson[1] weit, so dass auch der Schutz der Durchführung von Unionspolitiken durch flankierendes Strafrecht (hier: strafrechtlicher Schutz von Mehrwertsteueransprüchen) ausreichend ist, um den notwendigen Konnex zum europäischen Recht herzustellen.
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Hierzu hat sich das BVerfG allerdings in einem obiter dictum der Entscheidung zur Anti-Terror-Datei kritisch geäußert und sich vorbehalten, eine Anwendung von Unionsrecht, die zu einer Verletzung der Verfassungsidentität[2] der Bundesrepublik Deutschland führen sollte, zu unterbinden.[3]
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Darüber hinaus findet die unionsrechtskonforme Auslegung im Strafrecht – auch nach der Judikatur des EuGH[4] – ihre Grenzen in dem auch im Unionsrecht anerkannten Grundsatz nullum crimen sine lege.[5] Daher darf ein nationales Gesetz nicht nur aus national-verfassungsrechtlichen Gründen (für Deutschland aus Art. 103 Abs. 2 GG) keinesfalls über seinen Wortlaut hinaus strafbegründend oder strafschärfend ausgelegt werden. Der Wortlaut des Gesetzes wirkt – das hat der EuGH in der Rechtssache Pupino[6] deutlich gemacht – auch in einem europäisierten mitgliedstaatlichen Strafrecht als äußerste Grenze der Strafbarkeit. Ferner steht außer Zweifel, dass eine Auslegung, die zur Verletzung von Menschenrechten oder europäischen Grund- und Freiheitsrechten führen würde, keine unionsrechtskonforme Auslegung darstellen kann. Der EuGH hat sich in der Entscheidung Steffensen[7] dazu wie folgt geäußert:
Die Grundrechte gehören zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, deren Wahrung der EuGH zu sichern hat.“ Ferner heißt es in der Berlusconi-Entscheidung: „Daraus folgt, dass dieser Grundsatz [hier lex mitior] als Bestandteil der allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts anzusehen ist, die der nationale Richter zu beachten hat, wenn er das nationale Recht, das zur Durchführung des Gemeinschaftsrechts erlassen wurde, und im vorliegenden Fall insbesondere die Richtlinien zum Gesellschaftsrecht anwendet.
Auch aus der Entscheidung Jeremy F.[8] wird deutlich, dass die europäischen Grundrechte sowie die Grundsätze des Unionsrechts stets zu berücksichtigen sind, wenn harmonisiertes Recht angewendet wird.
a) Grenzen der nationalen Grundrechte im Verfahrensrecht (Taricco)
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Innerhalb der Rechtsetzungskompetenzen der EU kann der Anwendungsvorrang des Unionsrechts jedoch im Einzelfall auch Auswirkungen über den Wortlaut des nationalen Gesetzes hinaus haben, wenn dies notwendig ist, um die Effektivität des Rechts der Europäischen Union zu wahren und die Union von ihrer Rechtsetzungskompetenz bereits Gebrauch gemacht hat. Der EuGH hat in der Entscheidung Taricco[9] vom 8.9.2015 dementsprechend für eine italienische Verjährungsvorschrift entschieden, dass die Regelung durch das nationale Strafgericht grundsätzlich nicht angewendet werden darf, wenn dies dazu führen würde, dass eine effektive Verfolgung von Mehrwertsteuerhinterziehungen, -missbrauch oder -umgehungen nicht verhindert oder geahndet werden kann. Der EuGH betont in dieser Entscheidung die Verpflichtung der Mitgliedstaaten aus Art. 325 AEUV rechtswidrige Handlungen zu bekämpfen, die sich gegen die finanziellen Interessen der Europäischen Union richten. Solchen Taten sei mit abschreckenden und wirksamen Maßnahmen zu begegnen.[10] Aufgrund des unmittelbaren Zusammenhangs zwischen den Eigenmitteln der Union und der Mehrwertsteuer gelte diese Verpflichtung auch für den Bereich der Mehrwertsteuer. Grundsätzlich seien die Mitgliedstaaten zwar frei darin, ob sie Verwaltungssanktionen oder Kriminalstrafen als Mittel der Bekämpfung des Mehrwertsteuermissbrauchs wählen, jedoch seien strafrechtliche Maßnahmen im Bereich schweren Mehrwertsteuerbetrugs unerlässlich. Zumindest in schweren Betrugsfällen, müsse das nationale Recht nach Art. 2 Abs. 1 des PIF-Abkommens auch Freiheitsstrafen vorsehen.[11]
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In dem zu entscheidenden Fall sah die Große Kammer des Gerichts diese Effektivität dadurch beeinträchtigt, dass die vom nationalen Gericht abzuurteilenden schweren Fälle von Mehrwertsteuerbetrug durch eine kriminelle Vereinigung nach italienischem Strafrecht nach höchstens acht Jahren und neun Monaten – einschließlich aller Verlängerungen und Ruhensphasen – verjährten. Dies führte nach der Darstellung des vorlegenden Gerichts dazu, dass bereits im Jahr 2014 absehbar war, dass die Durchführung des Strafverfahrens in allen Instanzen nicht bis zur Verjährung im Jahr 2018 erfolgt sein würde, die Taten mithin nicht bestraft werden könnten. Der EuGH stellte daher fest, dass eine nationale Verjährungsvorschrift, die dazu führt, dass schwere Fälle von Mehrwertsteuerbetrug in einer großen Zahl nicht sanktioniert werden können, weil sie regelmäßig verjährt sind, bevor eine endgültige Entscheidung ergehen kann, zur mangelnden Abschreckung und Wirksamkeit des nationalen Strafrechts führt.[12] Soweit das nationale Gericht zu dem Ergebnis komme, dass die nationalen Bestimmungen unter dieser Maßgabe dem Unionsrecht nicht genügen, seien sie ggf. unangewendet zu lassen, um die Wirksamkeit des Unionsrechts zu gewährleisten.[13]
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Für den Fall der Nichtanwendung einer solchen, den Beschuldigten begünstigenden Bestimmung hat