Fiskalstrafrecht. Udo Wackernagel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Udo Wackernagel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783811406629
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dazu führen, dass Sanktionen verhängt werden, denen die Beschuldigten wahrscheinlich nicht hätten unterworfen werden können, wenn die Bestimmungen des nationalen Rechts angewendet worden wären. Doch weist die Große Kammer auch darauf hin, dass Art. 49 der GRCh nicht verletzt wäre, wenn man ohne ausdrückliche gesetzliche Grundlage die Verjährungsvorschriften ablehnte, weil weder eine Handlung oder Unterlassung unter Strafe gestellt wäre, die vorher nicht strafbar war, noch eine Sanktion verhängt würde, die zuvor nicht angedroht wurde. Vor einer Aussetzung der Verjährung, die die Strafbarkeit als solche nicht betreffe, schütze weder Art. 49 GRCh noch Art. 7 EMRK.[14] Verjährungsrecht ist nach Auffassung des EuGH also – wie nach der h.M. im deutschen Strafrecht – Verfahrensrecht und unterfällt daher nach h.M. nicht dem Anwendungsbereich des Bestimmtheitsgrundsatzes und des Analogieverbots.

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      Der Entscheidung des EuGH in Sachen M.A.S. & M.B. könnte noch eine weitere Relativierung des Schutzes der nationalen Grundrechte entnommen werden. Denn die Große Kammer formuliert ihre These von der Berücksichtigung nationaler Verfassungsidentität vor dem Hintergrund des Vorbehalts einer nur teilweise erfolgten Harmonisierung:

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      Damit legt der EuGH die Frage nach der Verfassungsidentität nicht vollständig in die Hand der Mitgliedstaaten. Die Passage ist vielmehr wohl so zu verstehen, dass den Mitgliedsstaaten das Recht zustehen kann, ihre Verfassungsidentität auch in der Weise zu schützen, dass Vorschriften, die einer effektiven Durchsetzung des Unionsrechts entgegenstehen angewendet werden, um die elementaren Garantien der mitgliedstaatlichen Verfassung zu schützen. Aber Kriterien für die Beurteilung, ob die Verfassungsgarantien zur Anwendung kommen, kann eine durch Unionsrecht determinierte Frage sein. Das bedeutet, man müsste also nicht nur fragen, ob der Bestimmtheitsgrundsatz als solcher zur Verfassungsidentität gehört, sondern auch ob der Schutz des Beschuldigten im konkreten Fall vor einer Veränderung oder Aussetzung der Verjährungsfristen durch die Verfassung zwingend geboten ist und die Aufgabe dieses Schutz den Kern der Grundrechtsgarantien beträfe.

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      Der EuGH macht mit seiner Bezugnahme auf die materiellen Vorgaben der RL 2017/1371 für den konkreten Fall deutlich, dass dem nationalen Straf- und Verfassungsrecht die Deutungshoheit über die Anwendbarkeit der (nationalen) Grundrechte nur soweit zusteht, wie keine unionsrechtliche Harmonisierung stattgefunden hat. Solange die Umsetzungsfrist der Richtlinie zum Schutz der finanziellen Interessen noch nicht abgelaufen ist, hat das italienische Gericht also das Recht die Verjährung als materielle Regelung zu verstehen, die dem (nationalen) Bestimmtheitsgrundsatz unterfällt. Sobald aber die Harmonisierung mit Ablauf der Frist am 6.7.2019 erfolgt ist, gibt das Unionsrecht auch die materielle Bewertung vor. Die Verjährungsvorschriften sind dann als Teil des Verfahrensrechts anzusehen, das Gesetzlichkeitsprinzip für das Strafrecht gilt demnach – aus unionsrechtlicher Sicht – nicht und der nationale Bestimmtheitsgrundsatz darf nicht angewendet werden, wenn das italienische Gericht nicht plausibel darlegen kann, wie die italienische Verfassungsidentität im konkreten Fall der Nichtanwendung der Verjährungsvorschriften beeinträchtigt wäre (vgl. Rn. 66 ff.).

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      Anmerkungen

       [1]

      EuGH NJW 2013, 1415 ff.; u.a. m. Anm. Dannecker JZ 2013, 616; Dreher/Adick ZWH 2013, 234 f.; Eckstein ZIS 2013, 220 ff.; Streinz