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Der selektive Vertrieb marktbeherrschender Unternehmen ist regelmäßig nach den gleichen Grundsätzen wie eine allgemeine Lieferverweigerung zu beurteilen. Im Rahmen der anzustellenden Interessenabwägung ist einerseits die Freiheit des Herstellers, seinen Vertrieb nach seinen Vorstellungen umzusetzen, und andererseits die Seite des betroffenen Geschäftspartners, der durch die Selektion ausgesondert und nicht beliefert wird, zu berücksichtigen. Eine qualitative Selektion ist grundsätzlich als zulässig zu erachten, wenn die Anforderungen an die Händler sachgerecht und angemessen sind und sie diskriminierungsfrei ausgestaltet sind. Eine quantitative Selektion lässt sich hingegen nur in absoluten Ausnahmefällen rechtfertigen. Dies kann dann der Fall sein, wenn das zu vertreibende Produkt eine zahlenmäßige Begrenzung der Händler erforderlich macht. Dabei ist jedoch immer zu prüfen, ob die Zahl nicht auch anhand qualitativer Kriterien begrenzt werden kann.[141]
(2) Bezugsverweigerung gegenüber Lieferanten
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Im Rahmen der Bezugsverweigerung gegenüber Lieferanten ist die Rechtsprechung zurückhaltender mit der Bejahung einer Abnahmepflicht durch das marktbeherrschende Unternehmen. So besteht im Falle von Nachfragemacht nur im Ausnahmefall ein Kontrahierungszwang. Denn der Bezugsfreiheit der Nachfrager ist grundsätzlich ein größerer Spielraum einzuräumen als der Belieferungsfreiheit auf der Anbieterseite. Ein Kontrahierungszwang kann daher wohl nur angenommen werden, wenn "mildere", d.h. die Entscheidungsfreiheit des Marktbeherrschers weniger beschränkende Verhaltenspflichten, nicht in Betracht kommen. Dabei ist insbesondere an eine Verpflichtung des Normadressaten zu denken, das abhängige Unternehmen in den engeren Kreis der nach bestimmten objektiven Auswahlkriterien zu berücksichtigenden Anbieter einzubeziehen.[142]
ee) Behinderung beim Zugang zu wesentlichen Einrichtungen („essential facility“)
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Sowohl im nationalen als auch im europäischen Recht kennt das Missbrauchsverbot das Verbot der Verweigerung des Zugangs zu wesentlichen Einrichtungen. Während diese Rechtsfigur im europäischen Recht unter dem Begriff der „essential facility doctrine“ von der Kommissionspraxis und der Rechtsprechung herausgebildet wurde[143], findet sich im nationalen Recht eine ausdrückliche Normierung in § 19 Abs. 2 Nr. 4 GWB. Danach liegt ein Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung vor, wenn ein marktbeherrschendes Unternehmen sich weigert, einem anderen Unternehmen gegen angemessenes Entgelt Zugang zu den eigenen Netzen oder anderen Infrastruktureinrichtungen zu gewähren, wenn es dem anderen Unternehmen aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen ohne die Mitbenutzung nicht möglich ist, auf dem vor- oder nachgelagerten Markt als Wettbewerber des marktbeherrschenden Unternehmens tätig zu werden. Diese Vorschrift wurde im Zuge der 6. GWB-Novelle als Antwort auf die zunehmende Bedeutung der Netzindustrien aufgenommen. So gibt es einige Märkte, auf denen eine Betätigung nur über die Mitbenutzung kostspieliger Infrastruktureinrichtungen möglich ist. Klassische Beispiele dafür sind Märkte im Bereich der Telekommunikation, der Energie und des Verkehrs.
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Ein Netz in diesem Sinne ist ein Unterfall der Infrastruktureinrichtung. Darunter ist eine physische oder virtuelle Verbindung zwischen zwei Orten, die im Zuge der Leistungserbringung erreicht werden müssen, zu verstehen.[144] Das Tatbestandsmerkmal der Infrastruktureinrichtung erfüllt im Verhältnis zum Netzbegriff eine Auffangfunktion. Dabei geht der Begriff der Infrastruktureinrichtung über den des Netzes hinaus. Es ist keine Verbindung zwischen mehreren Orten der Leistungserbringung erforderlich, sondern es reicht aus, wenn eine Einrichtung in Anspruch genommen werden muss, um eine Wettbewerbshandlung vorzunehmen.[145] Für beide Begriffe ist kennzeichnend, dass sie selbst keine Dienstleistungen, aber die Voraussetzung für die Erbringung von Dienstleistungen sind.
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Eine Einrichtung in diesem Sinne gilt dann als wesentlich, wenn es dem Nachfrager ohne ihre Mitbenutzung aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen nicht möglich ist, auf dem vor- oder nachgelagerten Markt tätig zu werden. Für die Tätigkeit ist die Einrichtung unabdingbar, wenn sie weder duplizierbar noch substituierbar ist, es also keinerlei Ausweichmöglichkeiten gibt.[146] Daran fehlt es jedenfalls, wenn die Einrichtung von besonders leistungsfähigen Wettbewerbern errichtet werden kann.[147] Dem Zugang begehrenden Unternehmen darf es ohne die Mitbenutzung aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen nicht möglich sein, auf dem nachgelagerten Markt tätig zu werden. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn das Unternehmen selbst keine Möglichkeit hat, sich die Einrichtung selbst zu erbauen, z.B. weil eine weitere Schaffung aufgrund fehlender Genehmigung aus rechtlichen Gründen oder aus ökonomischen Gründen wirtschaftlich nicht zumutbar oder sinnvoll ist.
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In der Praxis zu § 19 Abs. 2 Nr. 4 GWB finden sich Fälle zu Stromnetzen,[148] Fährhäfen,[149] Mobilfunk und Telekommunikation,[150] Fahrplanauskunftssystemen[151] und Kartenvorverkaufsnetzen.[152]
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Dem anbietenden Unternehmen steht ein angemessenes Entgelt zu. Die Angemessenheit bestimmt sich dabei nach ökonomischen Gesichtspunkten.[153] Der Zugang kann nach § 19 Abs. 2 Nr. 4 HS 2 GWB verweigert werden, wenn dem marktbeherrschenden Unternehmen die Mitbenutzung aus betriebsbedingten oder sonstigen Gründen nicht möglich oder nicht zumutbar ist. Dies kann insbesondere im Fall fehlender Kapazitäten[154] bzw. im Fall von Störungen des Betriebs bei Mitbenutzung problematisch sein. Dabei sind aber zumutbare Möglichkeiten der Schaffung von Kapazitäten ggf. auszuschöpfen.[155] Für die fehlende Zumutbarkeit kommt es auf eine allgemeine Interessenabwägung an, wobei die Beachtung der Freiheit des Wettbewerbs als Zielsetzung des Wettbewerbsrechts zu berücksichtigen ist.[156]
I. Behinderungs- und Diskriminierungsverbot für marktstarke Unternehmen (§ 20 Abs. 1 GWB)
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§ 20 Abs. 1 GWB soll Situationen einer Machtungleichgewichtung erfassen, in denen zwar eine marktbeherrschende Stellung des Unternehmens i.S.d. § 19 GWB nicht festzustellen ist, kleine oder mittlere Unternehmen (KMUs) aber von einem anderen Unternehmen bilateral derart abhängig sind, dass sie nicht über ausreichende und zumutbare Ausweichmöglichkeiten verfügen. Nach § 20 Abs. 1 GWB gilt das Diskriminierungs- und Behinderungsverbot des § 19 Abs. 1 i.V.m. § 19 Abs. 2 Nr. 1 GWB daher auch für Unternehmen mit relativer Marktmacht in der gleichen Weise wie für marktbeherrschende Unternehmen. Der AEUV enthält keine vergleichbare Regelung.
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Eine relative Marktmacht im Vertikalverhältnis ist nach § 20 Abs. 1 GWB dann zu bejahen, wenn kleine oder mittlere Unternehmen als Anbieter oder Nachfrager von einem Unternehmen abhängig sind, weil keine ausreichenden und zumutbaren Ausweichmöglichkeiten bestehen. Ob ein Unternehmen als kleines oder mittleres Unternehmen einzustufen ist und es damit in den Schutzbereich der Vorschrift fällt, lässt sich nicht schematisch anhand bestimmter Umsatzgrößen festmachen. Vielmehr sind die Umstände des Einzelfalls entscheidend, wobei hier die Umsatzgrößen bei der Bewertung jedenfalls miteinbezogen werden.
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Im Rahmen des geforderten Abhängigkeitsverhältnisses unterscheidet man im Grundsatz zwischen vier Abhängigkeitskonstellationen, die sich in der Rechtsprechung herausgebildet haben: Die sortimentsbedingte, unternehmensbedingte, nachfragebedingte und mangelbedingte Abhängigkeit.[157]
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Hauptanwendungsfall des § 20 Abs. 1 GWB ist die sog. sortimentsbedingte Abhängigkeit. Diese liegt dann vor, wenn Handelsunternehmen