96
Eine unternehmensbezogene Abhängigkeit besteht insbesondere, wenn der Abnehmer hinsichtlich seines Bezuges seinen Betrieb derart auf einen Vertragspartner ausgerichtet hat, dass er nur unter Inkaufnahme erheblicher Wettbewerbsnachteile auf die Produkte eines anderen Lieferanten ausweichen kann.[160] Eine unternehmensbezogene Abhängigkeit liegt häufig zwischen KFZ-Vertragshändler und Automobilhersteller, sowie zwischen einem Franchisenehmer und einem Franchisegeber vor.[161]
97
Von einer nachfragebedingten Abhängigkeit[162] spricht man im umgekehrten Fall, in welchem ein Unternehmen darauf angewiesen ist, dass seine Produkte oder Leistungen von marktstarken Nachfragern abgenommen werden, weil es selbst nicht über ausreichende und zumutbare andere Abnehmer als Ausweichmöglichkeit verfügt. Ein solches Abhängigkeitsverhältnis findet sich insbesondere bei Zulieferern der Automobilindustrie, im öffentlichen Beschaffungswesen oder bei Lieferanten großer Handelsgruppen.[163]
98
Eine mangelbedingte Abhängigkeit liegt vor, wenn ein Unternehmen wegen einer generellen Verknappung auf dem entsprechenden Markt, Waren nicht mehr in ausreichender Menge oder gar nicht mehr erhält, so dass es nicht mehr unter konkurrenzfähigen Bedingungen auf andere Anbieter ausweichen kann.[164]
99
Gem. § 20 Abs. 1 S. 2 GWB wird vermutet, dass ein Anbieter einer bestimmten Art von Waren oder gewerblichen Leistungen von einem Nachfrager abhängig ist, wenn dieser Nachfrager bei ihm zusätzlich zu den verkehrsüblichen Preisnachlässen oder sonstigen Leistungsentgelten regelmäßig besondere Vergünstigungen erlangt, die gleichartigen Nachfragern nicht gewährt werden.[165]
II. Anzapfverbot für marktstarke Unternehmen (§ 20 Abs. 2 GWB)
100
Über § 20 Abs. 2 GWB ist der Tatbestand des Missbrauchs durch Aufforderung oder Veranlassung zur Gewährung von Vorteilen (Anzapfverbot)[166], der nach § 19 Abs. 2 Nr. 5 GWB für marktbeherrschende Unternehmen gilt, auch auf marktstarke Unternehmen anwendbar. Damit wird diesen untersagt, unter Ausnutzung ihrer Marktstärke, die von ihnen abhängigen Unternehmen dazu aufzufordern oder zu veranlassen, ihnen ohne sachlich gerechtfertigten Grund Vorteile zu gewähren. § 20 Abs. 2 GWB bezieht sich dabei nur auf den Abhängigkeitstatbestand des Abs. 1, ist aber seinem Wortlaut folgend nicht auf kleine oder mittlere Unternehmen begrenzt. Die Abhängigkeitsvermutung des § 20 Abs. 1 S. 2 GWB gilt nicht im Rahmen des Abs. 2.
III. Behinderungsverbot für Unternehmen mit überlegener Marktmacht (§ 20 Abs. 3, 4 GWB)
101
Die Vorschrift des § 20 Abs. 3, 4 GWB spricht ein besonderes Behinderungsverbot für Unternehmen mit überlegener Marktmacht aus und stellt damit ein Pendant zu Abs. 1 im horizontalen Bereich dar. Danach dürfen Unternehmen mit gegenüber kleinen und mittleren Unternehmen überlegener Marktmacht ihre Marktstellung nicht dazu ausnutzen, solche Wettbewerber unmittelbar oder mittelbar unbillig zu behindern.[167] § 20 Abs. 4 GWB enthält zugunsten der behinderten Unternehmen eine Beweiserleichterung bei der Feststellung des verbotenen Verhaltens.[168]
102
§ 20 Abs. 3 S. 2 GWB enthält drei nicht abschließende Regelbeispiele. Danach wird jedenfalls dann von einer unbilligen Behinderung ausgegangen, wenn Lebensmittel unter Einstandspreis verkauft werden (Nr. 1), wenn andere Waren oder gewerbliche Leistungen nicht nur gelegentlich unter Einstandspreis verkauft werden (Nr. 2) oder wenn ein Unternehmen von KMUs, mit denen es auf dem nachgelagerten Markt beim Vertrieb von Waren oder gewerblichen Leistungen im Wettbewerb steht, für deren Lieferung einen höheren Preis fordert, als es selbst auf diesem Markt anbietet (Nr. 3), es sei denn es liegt eine sachliche Rechtfertigung vor.
D. Ausblick
103
Das Verbot des Missbrauchs von Marktmacht steht im Zentrum aktueller Diskussionen. Wird das Kartellrecht als rechtliches Mittel verstanden, um wirtschaftliche Giganten zu kontrollieren und ihre Macht einzuschränken, nimmt die Rolle der Missbrauchsaufsicht – sowohl auf nationaler als auch europäischer Ebene – deutlich zu. Dabei nimmt die digitale Ökonomie im Rahmen der Missbrauchsaufsicht einen immer größer werdenden Stellenwert ein. Seit Jahren und auch aktuell erlebt sie eine besonders dynamische Entwicklung, insbesondere gekennzeichnet durch Neuerungen in Informations-, Kommunikations-, Datenspeicherungs- und verarbeitungstechnologien. Plattformmodelle, Informationsintermediäre und Netzwerkeffekte haben die digitale Ökonomie in das Bewusstsein von Politik und Öffentlichkeit treten lassen. Wie in vielen anderen Bereichen hat auch im Wettbewerbsrecht längst eine Diskussion begonnen, ob diese Veränderungen eine Anpassung des kartellrechtlichen Regelungsrahmens erfordern. Ausgangspunkt von Reformüberlegungen waren insbesondere verschiedene Missbrauchsverfahren, in denen digitale marktmächtige Unternehmen im Hinblick auf mögliche Marktmissbräuche überprüft wurden.[169] In diesen Verfahren wurde deutlich, dass sich die digitalen Märkte von denen der traditionellen Märkte unterscheiden und es einer Änderung bestehender Marktmissbrauchsmechanismen bedarf, um diese Fälle rechtlich umfänglich abdecken zu können.
104
Erste Änderungen wurden bereits im Zuge der 9. GWB-Novelle im nationalen Recht umgesetzt.[170] So stellt der neu eingefügte § 18 Abs. 2a GWB nunmehr klar, dass auch im Falle einer unentgeltlichen Leistungsbeziehung ein Markt vorliegen kann, während § 18 Abs. 3a GWB die Kriterien für die Bestimmung der Marktmacht von Plattformen und Netzwerken präzisiert. Doch die umgesetzten Änderungen werden bereits jetzt als ergänzungsbedürftig angesehen.[171] So hat sich die Bundesregierung im Koalitionsvertrag vom März 2018 insbesondere vorgenommen, die wettbewerblichen Rahmenbedingungen für die digitale Wirtschaft weiter zu entwickeln. Gebraucht werde eine „Modernisierung des Kartellrechts in Bezug auf die Digitalisierung und Globalisierung der Wirtschaftswelt. Die Wettbewerbsbehörde [müsse] Missbrauch von Marktmacht vor allem auf sich schnell verändernden Märkten zügig und effektiv abstellen können.“[172] Zur Vorbereitung der geplanten Änderungen, hat das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie eine Studie in Auftrag gegeben, um festzustellen, in welcher Weise das Wettbewerbsrecht zur Vorbereitung auf die weitere digitale Ökonomie angepasst werden muss.[173] Auch wurde im September 2018 durch die Bundesregierung eine „Kommission Wettbewerbsrecht 4.0“ eingesetzt.[174] Vor dem Hintergrund der zunehmenden Globalisierung und Digitalisierung soll sie als rechtspolitische Plattform für eine Debatte zur Weiterentwicklung des deutschen und europäischen Rechts dienen. Reformen sind daher nicht nur im Zuge der 10. GWB-Novelle zu erwarten,[175] sondern ebenfalls solche im europäischen Rechtsraum. Die deutsche und europäische Missbrauchsaufsicht wird daher auch in den kommenden Jahren voraussichtlich einem steten Wandel unterliegen.
Anmerkungen
KölnKomm-KartR/Busche § 18 GWB Rn. 46.