Auch Jadefisch bemerkte nichts. Die Wellen, die von rechts an seinen Einbaum schlugen, schob er auf eine natürliche Strömung, das leise Plätschern, das er hörte, auf sein eigenes Paddel. Fast wäre er dem anderen, größeren Boot in die Seite gefahren. Aber der Gegenüber hielt ihn mit seinem Paddel auf Distanz. „Wer da?“
Jadefisch schwieg. Wenigstens gehörte diese Stimme nicht Schädelwand. Wem aber dann? Jadefisch erkannte lediglich Konturen. Ein Mann stand aufgerichtet hinten im Boot, und vor ihm saß noch jemand. Oben – dort, wo dessen Kopf, die Stirn war – blitzte ein Stern. Jetzt machte Jadefisch eine Dreiecksform aus: das königliche Diadem! Zu allem Unglück bückte sich der Paddler nach einer Leuchte.
„Unser Ixiptla!“ Der Paddler verneigte sich. Der Herrscher rührte sich nicht.
Jadefisch musste die Situation in den Griff bekommen, sonst war er verloren.
„Totecuiyo, o Herrscher!“ begann er, noch tastend nach den Worten, die ihn ins Recht setzen sollten – denn etwas stimmte hier nicht mit dem Großen Sprecher, so viel war klar. Was trieb diesen, nahezu alleine, bei Nacht auf den See? Und ihn selbst? Jadefisch trat die Flucht nach vorne an. „Unser Gott Tezcatlipoca, der alles sieht, dem nichts verborgen bleibt, hat mich dir nachgeschickt. Er trug mir auf, dich deiner Pflichten zu gemahnen.“ Sagte er das wirklich? Wagte er es, so mit dem mächtigsten Mann der Welt im Ring des Wassers zu reden? „O mein geliebter Herrscher!“, mäßigte er sich. „Du gehörst in deine Stadt, auf deinen Thron.“ Was sollte er sonst noch sagen?
Überraschend kam Motecuzoma ihm zu Hilfe. „Sahst du die Höhle des Toltekenkönigs leuchten?“
Jadefisch bejahte. „O Motecuzoma-tzin, du kommst zu spät. Vor kurzer Zeit noch stand sie wie ein Berg aus purem Gold, jetzt ist sie Fels und Erde. Kehre um!“
„Zuerst will ich meine Opfergaben niederlegen. Und du sollst mit mir kommen.“
So fuhren sie also Boot an Boot über die Lagune und gingen schließlich irgendwo an Land, der Leibwächter erkundete den Weg.
Argwöhnisch beobachtete der Herrscher seinen unfreiwilligen Begleiter. Wohin könnte er wollen, wenn nicht nach Cholollan? Wählte er den Umweg, um die Verfolger zu täuschen? Oder zog es ihn etwa nach Norden?
„Dort drüben“, der Herrscher deutete in jene Richtung, „liegt Otompan. Dort hat Vanilleblume sich verschanzt. Weil er ein paar Dörfer erobert hat, bildet er sich ein, das aztekische Bündnis schlagen zu können.“
„Er hat von Tag zu Tag mehr Krieger“, wagte Jadefisch zu sagen.
„Wenn sie merken, dass sie keinen Ruhm erlangen können, wird er sie wieder verlieren.“
Jadefisch entgegnete nichts. Er wartete auf eine günstige Gelegenheit, dem Herrscher zu entkommen. Wenn Motecuzoma doch nicht ständig den Blick auf ihn gerichtet hielte, so dass er das Weiße des Augapfels sah! Wenn sie doch endlich die Höhle erreichten, so dass er sich vielleicht im Labyrinth der Gänge absetzen könnte!
Der Felsen öffnete sich über einer Wasserader. Der Herrscher füllte ein kleines Gefäß mit weißem Kopal und stellte es als Opfergabe am Eingang ab. Sobald der Duft aufstieg, hieß er den Ixiptla vorangehen, den Leibwächter sich am Eingang postieren.
Sie wateten bachauf. Die Fackeln fraßen kleine Löcher in die Schwärze, so dass man erkannte, wo der schmale Raum sich weitete und trockener Grund begann. Bevor Motecuzoma aber weiter in die Höhle eindrang, hielt er Jadefisch die Fackel vors Gesicht. Und das war fleckig! Im Kopfputz fehlten etliche der angeklebten Adlerdaunen, allerdings trug der Ixiptla seine Göttertracht. Er schien so weit in Ordnung zu sein. Bis das abwärts gleitende Licht seine Waden enthüllte.
Oben, auf der Erde, hätte Motecuzoma wegen der fehlenden Schellen gezürnt. Die Höhle aber war eine Spiegelwelt. Bei den Toten waren alle Dinge ins Gegenteil verkehrt. War nicht auch Motecuzomas königlicher Umhang eine Täuschung? Verbarg er nicht den Deserteur, der seine Stadt im Stich ließ? Der vor dem Schicksal floh, das ihm bestimmt war? Kein Mensch, schon gar nicht er, durfte so etwas tun. Schweigend betrachtete er den Ixiptla. Nach geraumer Zeit sagte er: „Wir sind beide Abbilder Tezcatlipocas. Ich regiere an Seiner statt und übe Seine Gerechtigkeit aus. Du verkörperst den Sinn hinter den Dingen. Vor mir hat man Angst, denn ich halte die Ordnung dieser Welt aufrecht. Dich liebt man, weil du nichts forderst. Du gehst einher mit Flöten und Blumen und kündest von der anderen Welt, in die du bald eingehen wirst und aus der heraus die hiesige in Wirklichkeit lebt. Auch ich würde es vorziehen, die hellere Seite des Gottes zu sein. Es ist nicht leicht, Verantwortung für so viele Menschen zu tragen.”
Jadefisch wusste keine Entgegnung. Motecuzoma fuhr fort: „Was weißt du von König Huemac?“
„Er hat sein Reich verloren.”
„Gewiss. Aber warum?”
„Darüber gibt es viele Geschichten. Man sagt, dass er ungehörige Wünsche hegte. Auch sagt man, er habe den Krieg gegen die Stämme des Nordens verloren, weil sein Reich schwach und zerstritten war.” Motecuzomas Blick glitt über das kleine, längliche Goldgefäß an seinem Gürtel. Jadefisch sah es im Fackelschein aufblitzen. Eine dunkle Ahnung ergriff ihn. Wie redete man mit einem Toten? Wieder musste er daran denken, dass Motecuzoma ohne Gefolge hier war.
„Gib mir das Gefäß, das du am Gürtel trägst, o Herrscher. Ich werde es für dich bewahren, während du mit dem Toten sprichst. Unser Gott Tezcatlipoca hat dich auf den Thron gesetzt, Er allein wird dich abberufen.”
Schweigend händigte Motecuzoma ihm die goldene Kalebasse aus. Während das Gefäß mit einer knappen Bewegung zu ihm kam, spürte Jadefisch zum ersten Mal, was es hieß, Macht über jemanden zu haben. Er streckte die Hand aus, und das Gefäß wurde ihm hineingegeben.
Der Weg zu Huemacs Höhlengrab führte durch lange, unebene Gänge. An manchen Stellen tropfte Wasser von der Decke und sickerte von der Wand auf den Boden. Schritt für Schritt wurde Jadefisch in Huemacs böse Geschichte gezogen: Auf dem Marktplatz gegenüber dem Palast saß ein Pfefferschotenhändler, der niemand anders als Tezcatlipoca war, und entzweite die Tolteken. Er zeigte ihnen eine Puppe, einen kleinen Kriegsgott aus Holz, stellte ihn auf seine Hand und ließ ihn tanzen. Die Leute rasten vor Begeisterung. Jeder wollte dieses Schauspiel sehen. Sie trampelten einander nieder, denn jeder wollte vorn beim Puppenspieler sein. Am selben Tag begann der Krieg, dem König Huemac zum Opfer fiel. Motecuzoma sollte Gleiches widerfahren, wünschte Jadefisch.
Da glitt er auf dem feuchten Kalkgestein aus. Er stürzte unsanft und blieb liegen wie eine Gliederpuppe, unfähig aufzustehen. Ein Schmerz, so grausam, dass er jede andere Empfindung auslöschte, durchbohrte ihm den linken Fuß. Die Feuerklinge schnitt bis in den Knochen, und sein Aufschrei hallte in der Höhle wider. Dann sah er die schwarze Statue Tezcatlipocas. Der Gott nahm Jadefisch und setzte ihn auf seine Hand. Ohne Gnade zwang Er ihn zu tanzen. Jadefisch mühte sich ab. Er hüpfte auf einem Bein und kroch auf allen vieren. „Ist das dein Kriegstanz?”, höhnte der Gott. „Du willst in Vanilleblumes Kriegen deine Schuld bei mir begleichen?” Tezcatlipocas Stimme klang wie ein Erdbeben: „Höre! An Motecuzomas Seite kehrst du nach Tenochtitlan zurück und spielst meine Flöten!”
Was anschließend geschah, konnte Jadefisch sich später nicht erinnern. Motecuzoma ließ ihn zurück und drang allein in jenen Teil der Höhle vor, in dem sich Huemacs Grab befand. Gelang es ihm, den Geist des Toten zu beschwören? Jadefisch wurde nicht Zeuge.
Er wurde vom Schrei eines Reihers geweckt. Er lag im Boot des Großen Sprechers mit einem dicken Wickel um den Knöchel. Im Licht der Sonne nahmen die Dinge wieder Gestalt an. Durch die Wimpern blinzelnd erkannte er Motecuzoma, der ihn betrachtete. Die Miene des Königs wurde hoheitsvoll, als er sich davon überzeugte, dass der Ixiptla das Bewusstsein wiedererlangt hatte. Er erteilte einen Befehl. Paddel tauchten ins Wasser.
„Wie