„Wir sollten heute noch eine Stadt erreichen. Hier möchte ich nicht übernachten.“
Tlacotl musste die Leute antreiben, doch eine Stadt erreichten sie nicht. Immerhin wich der Nebelwald vor kultiviertem Land zurück. Kakaopflanzungen, Baumwollsträucher unter Kapokbäumen rückten ins Bild, an Palmen rankende Vanille-Orchideen mit Knospen, Blüten und Früchten in den Achseln fleischiger Blätter. Schwarze Blumen nannte man sie, obgleich die grünlich-gelbe Schönheit nicht einen dunklen Tupfen vorwies. Erst wenn sie welkte, wenn die einer Vulva ähnliche Blüte in sich zusammenfiel, färbte sie sich braun bis violett. Es blieb ein Auge, der Fruchtknoten, stehen, um eine zunächst grüne und dann schwarze Schote voll des köstlichsten Marks auszubilden.
Am nächsten Mittag erreichten sie ihr Ziel. Tlacotl führte den Zug durch eine ausladende Schleife zum Meer hinab, die gleißende Wasserfläche zur Rechten, um Opossum zu schonen. Schon kamen die Palmhütten der Fremden in Sicht, und Opossum ließ vorn den Vorhang aufschlagen. Schon kündigte sich auch der Tributeinnehmer an. Opossum stieg aus der Sänfte. Feierlich schritten der Herr-Des-Schwarzen-Hauses und der Tributeinnehmer, jeder mit einem Strauß bunter Blumen, ins Lager der Fremden. Hinter ihnen gingen die Priester. Tlacotl folgte mit der Trägerkarawane.
Vor der größten Palmhütte hielten sie an. Davor saß der Anführer der Fremden in einem hohen, runden Stuhl. Von ihm mochten gefährliche Kräfte ausgehen. Um sie zu bannen, steckten die Priester das Kopalharz in ihren Räucherlöffeln in Brand, und der Fremde versank mit seiner ganzen Umgebung in den weißen, süßlich duftenden Schwaden.
Sobald diese sich verzogen, tauchte zunächst ein runder Hut mit Feder und einer breiten Krempe auf, dann eine gerade Nase, ein bärtiges, huldvolles Antlitz, schließlich ein schwarzer Überwurf mit güldenen Schleifen, darüber eine Kette mit einem ovalen Goldanhänger, den Tlacotl von seinem Standort aus nicht gut erkennen konnte. Es mochte sich um ein Vogelei handeln, denn für ein Schlangenei erschien er ihm zu groß.
„Was hat er nur alles an?“, fragten sich die Priester, die sich von Tlacotl die Göttertrachten geben ließen. „Er ist gekleidet, als gelte es, sich vor den kalten Winden des Totenreichs zu schützen.“ Tlacotl musste lächeln. Unter dem Überwurf trug der Fremde ein dickes Wams mit langen Ärmeln bis an die Handgelenke. Leib und Schenkel waren von einer Haut aus Stoff umspannt, selbst seine Füße steckten in geschlossenen Schuhen mit kniehohen Röhren.
Die Priester, in luftigen Sandalen und Hemden, nahmen die Trachten entgegen, um den Fremden zu prüfen.
„Wartet noch“, sagte Tlacotl. „Der Herr-Des-Schwarzen-Hauses muss ihn zuerst begrüßen.“
„Ja, und?“, wunderte sich der Oberpriester des Tezcatlipoca. „Wir müssen da sein, wenn er fertig ist.“
„Das kann dauern, Yaopol-tzin. Der Gott nimmt seine Rede nicht direkt entgegen. Dafür hat er zwei Zungen – eine Frau und einen Mann.“
„Er braucht Dolmetscher?“
„So sieht es aus.“
Im Vergleich zum Vorjahr hatte sich die Verständigung etwas gebessert. Damals hatte man nur mit Händen und Füßen geredet. Tlacotl brachte sich weiter nach vorn. Die Priester beorderte er je zwei und zwei an seine Flanken. Auch der Fremde hielt nun eine Rede. Der Dolmetscher – ein Mann mit seltsam blauen Augen in einem braungebrannten Gesicht und mit den langen, wirren Haaren eines fastenden Priesters – öffnete den Mund.
„Was sagt er?“, fragte der Oberpriester.
Tlacotl zuckte die Achseln. Es hörte sich nach einer Maya-Sprache an, die er nicht verstand.
Die Frau übernahm das Reden. Sie trug nach Landessitte eine ärmellose Bluse über ihrem Wickelrock.
„Mein Gebieter fühlt sich geehrt“, sagte sie in korrektem Nahuatl zum Herrn-Des-Schwarzen-Hauses. „Motecuzoma ist ein großzügiger Fürst, der einen Gast zu empfangen weiß.“
Opossum verneigte sich.
Tlacotl winkte den Dienern zu. Tücher wurden vor dem Fremden ausgebreitet. „Die Kalenderräder, schnell!“
Sofort erschienen die kreisrunden Scheiben, gefolgt von Tieren aus Silber und Gold. Die Augen des Gastes erstrahlten. Seinen Mund umspielte ein Lächeln; sein Antlitz wurde heller mit jedem neuen Stück, das die Diener platzierten.
Tlacotl gab das Zeichen für den Einsatz der Schneckentrompete. Ein dunkler, weittragender Ton erschallte. Vier Priester schritten in die Mitte und legten die Tanztrachten der Götter aus.
Der Fremde lächelte noch immer, doch er schien nicht zu begreifen. Unentschieden glitten seine Blicke von der Türkismaske des Feuergottes zu der regengrünen Federkrone, dann zu dem kegelförmigen, mit Sternen besetzten Nachthelm des Tezcatlipoca und wieder zurück, bis sie endlich an der Vogelmaske mit dem goldenen, bezahnten Schnabel haften blieben, die Quetzalcoatl gehörte.
Die Priester setzten sie ihm auf. Sie schälten ihn aus seiner dicken Kleidung und legten ihm das Hemd mit roter Borte und das goldene Wind-Emblem an. Zwischen den Schenkeln zogen sie ihm den göttlichen Prunkschurz hindurch und befestigten an seiner Hüfte den runden Spiegel aus Obsidian, in dem die Götter die Welt erkennen.
Da wurden die Priester von Ehrfurcht erfasst, erblickten sie doch ihren Herrn Quetzalcoatl. Ihm musste geopfert werden. Ohne zu zögern begannen sie, sich mit Agavendornen zu stechen und das Blut auf Papierstreifen tropfen zu lassen. Diese legten sie in eine Schale, die sie vor Quetzalcoatl auf den Boden stellten.
Sie waren im Begriff, sich demütig zurückzuziehen, als der Gott, der bislang keine Regung gezeigt hatte, ganz plötzlich ergrimmte. „Waren dies all eure Geschenke?“
Nur der Oberpriester des Tezcatlipoca besaß den Mut zu einer Antwort: „Erheischt unser Herr ein menschliches Herz?“
Der Gott gab keine Antwort. Der Oberpriester versprach ihm ein Herz.
Der Gott erhob die Hand. „Deines etwa?“ Der Mann zu seiner Rechten zog ein langes Schwert und setzte es dem Oberpriester an die Brust.
„Wie du es wünschst“, erwiderte dieser mit belegter Stimme.
Der Gott lachte verächtlich. „Diese Rolle spiele ich nicht!“ Dann riss er sich die Maske ab. „Deine Götter sind alle falsch. Sie betrügen dich. Du darfst für sie nicht töten!“
Der Oberpriester vereiste. „Wer bist du, dass du so redest?“
„Ein Freund, der euch wohlgesonnen ist. Ich wurde entsandt, um euren Großen Sprecher zu treffen.“
„Was willst du von ihm?“
„Ihm vom wahren Gott berichten.“
Neben den Oberpriester trat der Herr-Des-Schwarzen-Hauses. „Wen soll ich dem Großen Sprecher denn melden?“
„Den Abgesandten des Großen Sprechers des Landes Caxtillan.“
„Hast du auch einen Namen?“
„Don Fernando Cortés.“
„Ton Pelnanto“, sagte die Frau.
„Und du?“
„Marina.“
„Malina? Malin-tzin?“
„So nennt mich mein Herr. Eigentlich heiße ich Ce Malinalli.“
Das hieß Eins-Drehgras und bedeutete den Tag, an dem sie geboren war.
„Malin-tzin“, zischte der Oberpriester, dem der Zusammenhang entgangen war. Noch zu aufgewühlt von dem unerhörten Vorfall eben, war er ganz auf den Fremden fixiert. „Der Gesandte heißt also Malintzin: Der-Die-Dinge-Verdreht.“
„Wer