»Hey, ist alles in Ordnung mit dir?«, fragt eine tiefe Stimme ganz in meiner Nähe.
Ich stehe mitten in der Nacht knietief in eiskaltem Wasser mit kaum etwas am Leib. Sieht es verdammt noch mal so aus, als sei mit mir alles in Ordnung? Mein bissiges Alter Ego beantwortet gedanklich diese Frage, aber ich selbst schweige. Ich kann die nötige Energie nicht aufbringen, um zu sprechen oder mich darum zu scheren, was dieser Fremde von mir denkt. Ich möchte einfach, dass er verschwindet. Mich allein lässt. Mir das hier ermöglicht. Aber dieses Glück ist mir nicht vergönnt.
Er watet durchs Wasser auf mich zu. Seine im Dunklen zunächst nur schemenhaft erkennbare Gestalt berührt meinen Arm, als er um mich herumgeht und sich direkt vor mir aufbaut, sodass ich keine andere Wahl habe, als ihn anzusehen.
Ein Funken Wärme breitet sich in meiner Brust aus, als ich in seine sinnlichen Augen starre, die so dunkelbraun sind, dass sie fast schwarz wirken. Der Schein des Mondes wirft Schatten um seinen Körper und hebt seine maskuline Schönheit in all ihrer Pracht hervor. Er trägt Baumwollshorts, die ihm tief auf den Hüften sitzen; sonst nichts. Seine nackte Brust ist ein beeindruckender Anblick und zeugt von großem Einsatz im Fitnessstudio. Seine Bauchmuskeln sind so definiert, dass sie wie aufgemalt wirken. Aber es sind die Tattoos auf seiner Brust und seinen Unterarmen, die meine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Niemand von den Jungs auf der Rydeville High hätte den Mumm, sich tätowieren zu lassen. Es würde nicht zu ihrem Ruf passen, den sie sich alle so sorgfältig aufgebaut haben, oder zu den Plänen, die ihre Eltern für ihre Zukunft vorgesehen haben. Die Elite würde sich nicht mal im Traum auf so etwas Provinzielles herablassen.
Der Typ ist mir ein Rätsel und erste Anzeichen von Neugierde regen sich in mir.
Ich lasse meinen Blick über seinen hinreißenden Oberkörper wandern und richte meinen Fokus auf sein Gesicht. Er sieht mich aufmerksam an. Nimmt meinen Anblick in sich auf, als wolle er tief in mich hineinsehen und meine Seele bis in die tiefsten Winkel ergründen. Es juckt mich in den Fingern, die feinen Stoppeln an seinem Kinn und seinem Kiefer nachzufahren. Seine Haare zu verwuscheln, die oben länger und an den Seiten kurz geschoren sind.
Das Verlangen, seine wie gemeißelt wirkenden Wangenknochen zu erforschen und seine vollen Lippen zu kosten, überwältigt mich aus dem Nichts und erinnert mich daran, dass ich noch immer am Leben bin. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich jemals nur durch den Anblick eines Kerls eine so starke körperliche Reaktion gezeigt habe. Keiner von den Jungs zu Hause hatte bisher eine so heftige Wirkung auf mich, außer Trent – er verschafft mir bereits mit einem knappen Blick eine Gänsehaut. Aber hier passiert das völlige Gegenteil davon.
Der Blick von diesem Fremden erhitzt mein Blut und jagt Verlangen durch meinen Unterleib. Ich neige den Kopf zur Seite, fasziniert und gefesselt, und habe meine ursprüngliche Selbstzerstörungsaktion nahezu vergessen.
Wir sprechen nicht. Wir starren uns nur an; ein elektrischer Funken lädt die Luft zwischen uns auf. Mein Körper erwacht aus seinem halb-komatösen Zustand und mir ist heiß und kalt zugleich. Ein Zittern ergreift von mir Besitz und ich schlinge die Arme um meine zierliche Gestalt, in dem verzweifelten Versuch, die beißende Kälte von mir fernzuhalten, die an meiner Haut nagt.
»Du musst dich aufwärmen.« Der Fremde streckt mir seine Hand entgegen. »Komm mit.«
Ohne Zögern umschließe ich seine Hand und gemeinsam gehen wir durchs Wasser zurück zum Ufer. Seine schwielige Handfläche drückt sich an meine Haut und sendet immer wieder ein heißes Prickeln entlang meines Armes. Wir schweigen, während wir aus dem Wasser waten und über den feuchten Sand zu einer kleinen Holzhütte ganz in der Nähe gehen. Sie ist mir nicht aufgefallen, als ich hergekommen bin, meine ganze Aufmerksamkeit galt einzig meinem Ziel.
Dünne Rauchschwaden dringen aus einem schmalen Schornstein. Fasziniert beobachte ich die spiralförmig aufsteigenden Wölkchen, während wir Hand in Hand auf die Holzhütte zuschreiten. In der Ferne erkenne ich ein ausladendes Anwesen auf einem riesigen Grundstück, das zu dieser späten Stunde bereits im Dunkeln liegt.
Der Fremde drückt die Tür auf und tritt zur Seite, um mir Einlass zu gewähren. Ein Hitzeschwall von einem offenen Kamin streicht über mein Gesicht, und mein Körper entspannt sich das erste Mal seit Tagen. Die Hütte ist klein, aber gemütlich eingerichtet. Der Hauptraum besteht aus einer kompakten Küche mit einem Herd, einer Spüle und einer langen Anrichte, an der drei Stühle stehen. Auf der rechten Seite befinden sich ein Dreisitzer-Sofa, davor ein Couchtisch sowie ein Fernseher, der über dem Kamin angebracht ist. Ein weiterer Nebenraum lässt ein Schlafzimmer mit einem angrenzenden Badezimmer vermuten, und das war es auch schon. Mein Schlafzimmer ist größer als die gesamte Hütte, aber nicht mal halb so einladend.
Der helle Vorleger, der auf dem lasierten Holzboden liegt, der bunte, weich wirkende Überwurf des Sofas sowie eine Vielzahl an farbigen Kissen vermitteln den Eindruck eines behaglichen und heimeligen Zuhauses. Das alte Bücherregal, das in der schmalen Ecke zwischen Wand und Tür steht, ist voller Bücher, DVDs und Andenken, was eine traute Atmosphäre erschafft. Das einzige Licht stammt von den flackernden Flammen und einer altmodischen Lampe auf dem Couchtisch.
Der Fremde schließt die Tür und bugsiert mich vor das Kaminfeuer. Wie auf Autopilot hebe ich die Hände und genieße die Wärme, die sich um meine ausgekühlte Haut schmiegt. Der Fremde bewegt sich hinter mir, doch ich drehe mich nicht zu ihm um. Stattdessen bleibe ich vor dem Feuer stehen und gestatte den Flammen, meine nahezu erfrorenen Gliedmaßen wieder aufzutauen und die Eisschicht um mein Herz aufzubrechen.
»Setz dich hin«, befiehlt der Fremde mit rauer Stimme, die sich wie eine Decke um meinen Körper legt.
Ohne ein Wort sinke ich auf den Boden, ziehe die Beine zur Brust, lege meine Arme um sie und sehe zu ihm hoch. Er setzt sich vor mich, löst sanft die Position meiner Beine und zieht eins davon auf seinen Schoß, während er meine feuchte Haut mit einem weichen blauen Handtuch abtrocknet. Wir starren einander während seines Tuns an, und wieder pulsiert diese Anziehung zwischen uns, die Zeuge einer unsichtbaren Verbindung zu sein scheint.
»Ich habe das Gefühl, dich von irgendwoher zu kennen, dabei bin ich sicher, dich noch nie zuvor gesehen zu haben«, gestehe ich, als ich schließlich meine Stimme wiederfinde.
Seine Hand auf meinem Fuß hält inne und der Blick aus seinen intensiven, schokoladenfarbenen Augen trifft den meinen. »Ich weiß«, erwidert er nach ein paar Sekunden.
Als er das Handtuch zur Seite wirft, rücke ich näher und knie mich vor ihn hin. Ich strecke meine Hand aus und berühre eine der beiden rasierten Seiten seines Kopfes. Dabei sehe ich ihn weiterhin unverwandt an. Lasse meine Finger über sein samtweiches Haar gleiten und zeichne die Linien seines Tattoos nach, die darunter erkennbar sind. Draußen war es zu dunkel, um es zu bemerken. Hier drinnen zieht es mich nur umso mehr in den Bann dieses geheimnisvollen, heißen Fremden, der aus dem Nichts aufgetaucht ist, um mich zu retten.
Das Tattoo hat die Form eines Kreuzes, und ich frage mich, ob es für ihn etwas Persönliches symbolisiert. Es ist höllisch sexy, und mein Körper scheint ganz automatisch auf ihn zu reagieren, denn ehe ich mich versehe, beuge ich mich bereits zu ihm.
Er zieht meine Hand von seinem Kopf weg und drückt einen federleichten Kuss auf die empfindsame Haut an meinem Handgelenk. Ich spüre die Berührung bis in die Zehenspitzen; seine Sanftheit steht in völligem Gegensatz zu seinem markanten Äußeren. Mit seinen definierten Bauchmuskeln, seinen muskulösen Armen und der tätowierten, sonnengebräunten Haut sieht er aus wie der Inbegriff des klassischen Bad Boys, vor dem jedes Mädchen gewarnt wird. »Warum warst du da draußen?«, will er wissen, ohne den Blick von mir zu lösen.
Ich könnte lügen, aber ich habe all die Lügen so satt.
Ich habe es satt, zu sagen, was von mir erwartet wird, und vorzugeben, jemand zu sein, der ich nicht bin. »Ich wollte einfach nichts mehr fühlen.«
Eine bedeutungsschwere Pause macht sich zwischen uns breit. Er starrt mich an und fragt