Die meisten Avantgardetheorien haben das Theater ausgeklammert, weshalb der Avantgardeforschung ein „anti-performance bias“1 bzw. ein „antiperformative bias“2 vorgeworfen wurde. Zwar findet bereits ab den 1960er Jahren eine Beschäftigung mit einzelnen Strömungen des Avantgardetheaters statt, doch erst ab den 2000er Jahren wird das Avantgardetheater auch in einem avantgardetheoretischen Kontext untersucht. Diese späte Zuwendung mag überraschen, wenn man bedenkt, dass Avantgarde und Theater viele Verbindungslinien aufweisen: man muss „the avant-garde gesture as first and foremost a performative act“3 denken.
Die Parallelen zwischen Avantgarde und Theater sind auffällig, denn hier wie dort lösen sich die traditionellen Kunstkategorien auf. Die Idee des Kunstwerks, das von einem Künstler produziert und von einem Publikum rezipiert wird, ist seit der historischen Avantgarde ins Wanken geraten. Diese Aufweichung der Triade Kunstwerk-Künstler-Rezipient ist am Theater bereits institutionell angelegt.4 Das avantgardistische Kunstwerk und die Theateraufführung stehen in einem Spannungsverhältnis zwischen autonomer Selbstzweckhaftigkeit und Wirklichkeitsanspruch, zwischen Produkt (Was?) und Prozess (Wie?), zwischen Hoch- und Popkultur, zwischen Materialität/Beständigkeit und Immaterialität/Flüchtigkeit, zwischen Inszenierung und Zufall. Der avantgardistische Künstler und der Theaterregisseur sind zugleich Individuen und Teile eines Kollektivs, Subjekte und Objekte, Organisatoren von Material und das Material selbst. Der avantgardistische Rezipient und der Theaterzuschauer weisen ebenfalls signifikante Gemeinsamkeiten auf, da beide sowohl passiv ein Kunstprodukt konsumieren, aber auch aktiv an seiner Entstehung partizipieren, sie sind Objekte und emanzipierte Subjekte zugleich.
Genau wie der Avantgardebegriff ist auch der Begriff des Avantgardetheaters umstritten. Bereits für Ionesco stand fest: „l‘ avant-garde, en réalité n’existe pas“5. Lemarchand kritisiert im Jahr 1949, dass der Avantgardebegriff aus dem Militärischen stamme, die selbsternannte künstlerische Avantgarde sich aber kaum auf gefährliches Terrain begebe und sich vom bourgeoisen Feind sogar mit Preisen auszeichnen lasse.6 Serreau äußert Skepsis gegenüber einem widersprüchlichen Avantgardebegriff, der „favorise depuis cent ans les pires abus de langage, les plus tenaces équivoques.“7 Und Corvin verweist auf die relative Qualität des Begriffs:
Esthétiquement, la notion d’avant-garde est […] instable: vouloir rester en état permanent de rupture, de dénonciation, ériger, par une exigence supérieure du théâtre, la recherche en principe, n’est-ce pas une position idéaliste impossible à tenir puisqu’elle condamnerait l’avant-garde au silence ou à l’asphyxie faute de public?8
Für Hans-Thies Lehmann ist die Avantgarde gar „ein Konzept, das selbst dem Denken der Moderne entsprang und dringend einer Revision bedarf“9.
Der Begriff des Avantgardetheaters ist in der Forschung dennoch verbreitet, wo er entweder das Theater der frühen und/oder der Nachkriegsavantgarde bezeichnet. Für das französische Avantgardetheater der unmittelbaren Nachkriegszeit haben sich auch die Begriffe nouveau théâtre bzw. théâtre nouveau durchgesetzt, sowie, zumindest für einen Teil dieses Theaters, die Bezeichnung des absurden Theaters. Die Bezeichnung „Avantgardetheater“ wird im Folgenden als Sammelbegriff für Theaterformen verwendet, die mit dem konventionellen Theater ihrer Zeit brachen und eine neue Tradition etablierten. Das Avantgardetheater ist, genau wie die Avantgarde, keine Schule, es setzt sich vielmehr aus unterschiedlichen Strömungen und Tendenzen zusammen, die gemeinsame Verbindungslinien aufweisen. Es kann zwischen drei Filiationen unterschieden werden: dem Theater der historischen Avantgarde, dem nouveau théâtre und dem postdramatischen Theater. Dabei fällt auf, dass die zuvor unternommene Unterscheidung zwischen Avantgarde und Neo-Avantgarde am Theater hinfällig ist: von einem neo-avantgardistischen Theater ist in der Forschung nicht die Rede, denn jede der drei Strömungen hat etwas genuin Neues zum Theater beigetragen, dem das Neo-Präfix nicht gerecht würde. Die einzelnen Strömungen des Avantgardetheaters können folgendermaßen dargestellt werden:
Abb. 11
Das Theater der historischen Avantgarde von Jarry bis zum Surrealismus geriet im Zuge der Wiederentdeckung der historischen Avantgarde Ende der 1960er Jahre zum ersten Mal in den Fokus der Forschung, allen voran bei Béhar (1967), dann bei Orenstein (1970), Matthews (1974), Melzer (1980), Zinder (1980), Grimm (1982), Knapp10 (1985) und Berghaus (2005). Im Kontext avantgardetheoretischer Überlegungen wurde das Avantgardetheater von Corvin11 (1971) und Asholt (2003) beleuchtet, die sich mit der widersprüchlichen Existenz eines dadaistisch-surrealistischen Theaters beschäftigt haben.
Nachdem das nouveau théâtre Ende der 1960er Jahre bereits zum Klassiker geworden war, entdeckte man nun, dass es bereits zuvor ein innovatives und originelles Theater gegeben hatte, in dem schon das ausgeprägt gewesen war, was später die vermeintliche Neuheit des nouveau théâtre ausmachen würde. Der Lettrist Maurice Lemaître bringt es überspitzt auf den Punkt, wenn er kritisiert, dass die Dramatiker des nouveau théâtre, unterstützt von Kritikern und Zuschauern, einen Applaus genössen, der eigentlich dem frühen Avantgardetheater zugestanden habe. Mit der Erstellung einer Liste dadaistisch-surrealistischer Stücke (in einem auf das Jahr 1964 datierten Dokument) wollte er
donner à cette époque presque inconnue du théâtre son vrai nom, faire découvrir ses auteurs, presque tous injoués […] et la rehausser enfin devant ses ersatz contemporains dits 'nouveaux' ou 'absurdes' (Ionesco, Tardieu, Audiberti, Beckett, Vian, Vauthier, Weingarten, Arrabal, etc)12.
Dem Theater der historischen Avantgarde wurde somit erstmals eine ästhetische Eigenexistenz und Originalität zuerkannt.
Der Zweite Weltkrieg stellte für das Avantgardetheater insofern eine Zäsur dar, als sich die äußeren Umstände des avantgardistischen Theaterschaffens nach 1945 verändert hatten. Zwar war auch die Generation der historischen Avantgardekünstler eine kriegsgebeutelte gewesen, jedoch hatte ihre Revolte gegen das Bestehende auch spielerische und utopische Züge, und sie hatte zumindest die Möglichkeit eines neuen Menschen und einer neuen Gesellschaft ins Auge gefasst. Die Atmosphäre nach dem Zweiten Weltkrieg ist jedoch gezeichnet von einem tragischen Grundgefühl, der Absage an den geschichtlichen Fortschritt und einem Gefühl der Isolation und Entfremdung des Einzelnen angesichts eines grausamen Universums und einer indifferenten modernen Welt.
Hatte sich die Theateravantgarde vor 1945 noch durch ihre Gruppenstruktur und der damit verbundenen Marktunabhängigkeit dank eigener Distributionskanäle ausgezeichnet, operieren die avantgardistischen Theaterautoren der Nachkriegszeit allein und unabhängig von den programmatischen Zwängen bestimmter Ismen. Diese Entwicklung erklärt sich unter anderem aus dem Misstrauen gegenüber den teilweise ideologisch aufgeladenen Avantgardebewegungen der Zwischenkriegszeit. Durch ihr individuelles Arbeiten waren die neuen Theatermacher aber auch einem größeren Marktzwang unterworfen.
Die frühe Theateravantgarde war ihrer Zeit voraus, sie war antagonistisch, anti-bourgeois und rebellierte gegen die bestehende Ordnung. Das Publikum sollte durch Schockstrategien und transformative Erlebnisse aus seiner Passivität aufgerüttelt werden. Der Zuschauer wurde so gezwungen, aktiv am Bühnengeschehen zu partizipieren. Im Laufe der Zeit hatte sich das Publikum an die avantgardistischen Schockstrategien gewöhnt und erwartete nun geradezu, in das Geschehen involviert zu werden. Seine aktive Teilnahme entstand nun nicht mehr aus einem Zwang heraus, sondern aus einem Konsens mit den Akteuren.
Die frühen Avantgardisten waren hauptsächlich Literaten, ihr Theater war ein Sprachtheater und stark in der Literatur und Poesie verhaftet. Dies zeigte sich auch auf der Bühne, deren Möglichkeiten weitgehend unerforscht blieben. Bis auf wenige Ausnahmen strebten die Theaterschaffenden der historischen Avantgarde keine Entwicklung einer neuen Theaterästhetik an, und sie verstanden ihre experimentellen Stücke oft nicht einmal als Teil eines Repertoires, sondern als einmalige Ereignisse. Theater war für sie nur ein Mittel unter vielen, um die Gesellschaft von der Kunst her zu revolutionieren. Es galt, die Institution Theater als solche anzugreifen und aufzuheben, was freilich nicht gelingen konnte, da die Institution sich als resistent erwies und Angriffe auf sie vereinnahmte. Die Theaterschaffenden der Nachkriegsavantgarde hatten verstanden, dass die Aufhebung