Nachdem die historische Avantgarde ab den 1960er Jahren aufgrund der Studentenproteste und dem Erfolg der Neo-Avantgarde ihr Comeback feierte, konnte sie nun aus dieser zeitlichen Distanz heraus neu beurteilt und verortet werden. Die 1960er und 1970er Jahre sind von der Suche „nach einer Theorie zur Erfassung des künstlerischen Wandels“1 gekennzeichnet, man wollte das Phänomen der Avantgarde auf eine Formel bringen. Die Forschung beschäftigt sich zu dieser Zeit mit Fragen der Begriffsbestimmung, der Charakterisierung und der Entwicklung allgemeingültiger Kriterien für die Avantgarde, außerdem interessiert ihre Beziehung zur Moderne, mit der sie entweder gleichgesetzt oder in Kontrast gestellt wird.
Mit dem Eintritt der westlichen Kunst und Gesellschaft in die Postmoderne ab den 1980er Jahren brach eine neue Epoche an. Nach dem Schock des Zweiten Weltkriegs erschienen Fortschrittsglaube und Absolutheitsanspruch von Moderne und Avantgarde plötzlich obsolet oder sogar gefährlich. Die postmoderne Avantgardekritik löst sich von der Idee, dass die unterschiedlichen avantgardistischen Strömungen mit einer Theorie erklärt oder durch einen Kriterienkatalog näher bestimmt werden können. Stattdessen ist eine Ausdifferenzierung der Forschung in neue Bereiche zu beobachten, sie nimmt sich der Avantgarde nicht mehr als Ganzes an, sondern interessiert sich für identitätspolitische Aspekte der Avantgarde, wie z.B. die Frau, den Nicht-Europäer oder den Greis. Der Fokus verschiebt sich also weg von einer allumfassenden Avantgardekonzeption, die die verschiedenen avantgardistischen Ismen als letztlich doch recht einheitliches Phänomen synthetisiert, hin zu einem Verständnis der Avantgarde als Ansammlung unterschiedlicher Strömungen ohne einheitliche Akteure, Merkmale und Intentionen.
Die Avantgardeforschung hat eine Fülle an Denkfiguren produziert, die im Folgenden skizziert werden sollen. Dabei schließen sich die Figuren nicht gegenseitig aus, häufig ergänzen sie sich oder beleuchten dieselbe Idee aus einer anderen Perspektive. Auch wenn jede Denkfigur auf unterschiedliche Aspekte der Avantgarde eingeht, so ist ihnen allen doch eine bestimmte Positionierung zu Zeit und Raum gemein.
2.5.1 Avantgarde als Spitze eines Dreiecks
Abb. 1
Schon lang vor dem Einsetzen einer Theoriebildung der Avantgarde hatte der russische Künstler Wassily Kandinsky, ohne den Begriff jemals zu verwenden, mit seiner Schrift Über das Geistige in der Kunst (1911/12) eine Art Avantgardetheorie avant la lettre geliefert, in der er das geistige Leben als ein in verschiedene „Abteilungen“ unterteiltes Dreieck beschreibt. An der Spitze dieses nach oben gerichteten Dreiecks befinde sich der unverstandene und verspottete Künstler-Seher. Die Künstler in den unteren Abteilungen strebten nur nach Erfolg und schafften eine entseelte und rein materielle Kunst, an der das Publikum bald das Interesse verlöre. Es begutachte diese Kunst mit Gleichgültigkeit und Kälte und bleibe leer und hungrig. Mit der Zeit bewege sich das Dreieck aber „langsam nach vor- und aufwärts“1, und die früher Geschmähten und Verlassenen erhielten nun Zuspruch von der Masse. Das Dreieck sei in ständiger Bewegung. Niemals solle sich derjenige an der Spitze in Sicherheit wähnen, an einem endgültigen Endpunkt angekommen zu sein, denn die Spitze des Dreiecks könne nur im Hinblick auf das Dagewesene festgelegt werden: man müsse einsehen, „daß das äußere Prinzip der Kunst nur für die Vergangenheit gelten kann und nie für die Zukunft.“2
Interessant an Kandinskys Dreieck-Theorie ist die Idee der Relativität und Instabilität der Avantgarde, deren Freiheit nie absolut ist.
2.5.2 Avantgarde als Zuspitzung der Moderne
Abb. 2
Eine der frühsten Auseinandersetzungen mit der Gesamtheit der avantgardistischen Strömungen geschieht in Renato Poggiolis Studie The Theory of the Avant-Garde (1962, englische Übersetzung 1968). Allerdings liefert Poggioli nicht wirklich eine Theorie (Buchloh hat dessen Essay als „hopelessly atheoretical and historically insufficient“1 beschrieben), sondern er geht deskriptiv in seiner Analyse der Avantgarde vor. Mit dem italienischen Literaturkritiker beginnt die in der anglo-amerikanischen Kritik häufig vertretene Rezeption der Avantgarde als Hochphase der Moderne. Er operiert mit einem ausgedehnten Avantgarde-Begriff, der mit der Romantik beginnt und sich in vier Phasen bis zur Gegenwart fortentwickelt.2
Bereits Ende der 1950er Jahre hatte der marxistische Literaturkritiker Georg Lukács die Avantgarde (zu der er Autoren wie Kafka, Joyce, Eliot, Gide und Beckett zählte) als Teil der Moderne betrachtet. Der Verfechter des kritischen Realismus warf der Avantgarde eine antirealistische, nihilistische, dekadente, pathologische und kapitalistische Weltanschauung vor und kritisierte, dass sich Mensch, Welt und Wirklichkeit in ihr auflösten.3 Lukács Überlegungen zur Avantgarde sind heute längst nur noch von historischer Bedeutung und für eine Avantgardetheorie kaum zu gebrauchen, sie zeigen die Avantgarde aber als besonders dekadenten Teil der Moderne und unterstützen damit Poggiolis Idee von der Gleichsetzung von Moderne und Avantgarde.
Die Konzeption der Avantgarde als besonders radikale Ausprägung der Moderne ist insbesondere im englischsprachigen Raum (z.B. bei Krauss, Calinescu4) vertreten und liegt sicher auch darin begründet, dass die historische Avantgarde ein spezifisch europäisches Phänomen war.
2.5.3 Avantgarde als Bruch mit der Moderne
Abb. 3
Nachdem die Kategorie des Bruchs unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa zum Tabu1 geworden war, wurde sie gegen Ende der 1960er Jahre wieder bemüht, um eine neue Tradition der Avantgardeforschung einzuleiten, die in Opposition zu Poggiolis Konzeption der Avantgarde als Hochphase der Moderne steht: die Avantgarde als Bruch mit der Moderne. Bereits im Jahr 1959 hatte Ionesco auf einer Konferenz über das Avantgardetheater in Helsinki die Linearität der Avantgarde mit dem Bild des Bruchs in Frage gestellt:
Je préfère définir l’avant-garde en termes d’opposition et de rupture. Tandis que la plupart des écrivains, artistes, penseurs s’imaginent être de leur temps, l’auteur rebelle a conscience d’être contre son temps. […] L’homme d’avant-garde est l’opposant vis-à-vis du système existant.2
Guy Debord hat als einer der ersten diese Wende in der Bewertung der Avantgarde beobachtet. Er glaubte, die moderne Kunst sei mit der Avantgarde an ihr Ende gekommen.3 Jedoch sei die Avantgarde in ihrem Bestreben, die Welt zu verändern aber letztlich doch im Bereich der Kunst verhaftet geblieben. Im Zuge der Bewusstwerdung ihres Scheiterns habe sie sich in eine doktrinäre Haltung zurückgezogen.4 Die Situationisten hätten dagegen die Kunst gerade in der Gleichzeitigkeit von Abschaffung und Realisierung überwunden und damit die avantgardistische Intention erfüllt.5 Sie waren die ersten Avantgarde der Nachkriegszeit, die sich explizit in die Tradition der historischen Avantgarde stellte.
Mit seiner Theorie der Avantgarde (1974) führt Peter Bürger das Konzept des Bruchs schließlich erfolgreich in die Avantgardeforschung ein. Ihm zufolge strebte die Avantgarde eine Überführung der Kunst in eine neue Lebenspraxis an. Voraussetzung dieses Bestrebens war die Trennung zwischen Kunst und Gesellschaft im Ästhetizismus des auslaufenden 19. Jahrhunderts und die daraus resultierende gesellschaftliche Wirkungslosigkeit der Kunst. Die Avantgarde habe die Beziehung zwischen Autonomie und Folgenlosigkeit der Kunst und damit ihre Selbstzweckhaftigkeit im l’art pour l’art erkannt und versucht, „die ästhetische (der Lebenspraxis opponierende) Erfahrung, die der Ästhetizismus herausgebildet hat, ins Praktische zu wenden.“6 Die europäische Avantgarde war damit ein „Angriff auf den Status der Kunst in der bürgerlichen Gesellschaft“.7 Die Institution Kunst als ein von der Lebenspraxis abgehobenes Phänomen wurde von der Avantgarde kritisiert, womit „das gesellschaftliche Teilsystem Kunst in das Stadium der Selbstkritik“8 eingetreten sei. Zum ersten Mal sei es der Kunst möglich, sich selbst als Institution (d.h. als