Dies hatte Ionesco in seinem Discours sur l’avant-garde (1959) schon früh festgestellt: „on ne peut s’apercevoir qu’il y a eu avant-garde que lorsque l’avant-garde n’existe plus en tant que telle, lorsqu’elle est devenue arrière-garde“1. Auch Hans-Magnus Enzensberger hat sich hierzu in seinem vielbeachteten Essay Die Aporien der Avantgarde (1962) geäußert:
Das Modell, an dem sich die Vorstellung der Avantgarde orientiert, ist untauglich. Das Voranschreiten der Künste in der Geschichte wird als lineare, eindeutige übersichtliche und überschaubare Bewegung gedacht, in der jeder seinen Platz, Spitze oder Troß, selber bestimmen könnte. Ungedacht bleibt, daß diese Bewegung vom Bekannten ins Unbekannte führt; daß mithin nur die Nachzügler angeben können, wo sie sind. […] Das avant der Avantgarde enthält seinen eigenen Widerspruch: es kann erst a posteriori markiert werden.2
Genauso problematisch wie die Vorher-Nachher-Dichotomie ist die Alt-Neu-Figur, denn das Neue wird immer irgendwann alt, und die Möglichkeiten des Neuen sind nicht unbegrenzt. Für Richard Schechner etwa, der nicht von einer, sondern gleich von fünf Avantgarden spricht3, ist der Avantgardebegriff als Bezeichnung für aktuelle Entwicklungen in der Kunst obsolet geworden, da die Innovation und das Neue endlich seien:
We can […] see how very far the current avant-garde is from the historical avant-garde. The current avant-garde is neither innovative nor in advance of. Like a mountain, it just is. Although the term 'avant-garde' persists in scholarship as well as journalism, it no longer serves a useful purpose. It really doesn’t mean anything today. It should be used only to describe the historical avant-garde, a period of innovation extending roughly from the end of the nineteenth century to the mid-1970s (at most). […] A Rubicon has been crossed. […] The limitless horizons of expectations that marked the modern epoch and called into existence endless newness have been transformed into a global hothouse, a closed environment. I do not agree with Baudrillard that everything is a simulation. But neither do we live in a world of infinite possibilities or originalities.4
Viel ratsamer ist es also, den Avantgardebegriff als Epochenbegriff für einen genau abgesteckten Zeitraum zu verwenden: die sogenannte „historische Avantgarde“ bezeichnet „die einzelnen, historisch, national-regional wie gesamteuropäisch und international agierenden Bewegungen und Ismen zwischen dem futuristischen Aufbruch 1909 und dem Zweiten Weltkrieg“5, insbesondere also Futurismus, Dadaismus und Surrealismus. Die Avantgarde muss ihren Avantgardismus somit nicht mehr anhand von langen und deshalb wenig aussagekräftigen Kriterienkatalogen (wie es beispielsweise von Beyme6 in seinem 12-Punkte-Programm vorgeschlagen hat) unter Beweis stellen, sondern ist als ein historisch klar eingegrenztes Phänomen zu begreifen, dessen Anfang und Ende dank der avantgardistischen Manifeste7 zeitlich genau datiert werden können. Mit Marinettis erstem futuristischen Manifest, das am 20. Februar 1909 im Pariser Figaro veröffentlicht wurde, wird „die Geburt der Avantgarde eingeläutet“8. Mit dem Ende des Surrealismus gilt die historische Avantgarde als abgeschlossen, d.h. offiziell im Jahr 1969 (drei Jahre nach Bretons Tod), in Wahrheit aber bereits ab Mitte der 1930er Jahre, als der Surrealismus seinen Zenit nach einem gescheiterten Ausflug in die Politik überschritten hatte.
Der eng gefasste und vor allem in der europäischen und insbesondere deutschsprachigen Forschung verbreitete Begriff der historischen Avantgarde macht eine wissenschaftliche Betrachtung der Avantgarde als Gesamtphänomen überhaupt erst möglich. Die avantgardistischen Ismen lassen sich trotz ihrer Vielfalt auf einen kleinsten gemeinsamen Nenner reduzieren:
1 der Gruppencharakter;
2 der Versuch, Kunst in Lebenspraxis zu überführen;
3 die Auflösung der traditionellen Triade Künstler-Kunstwerk-Rezipient.9
2.4 Die Neo-Avantgarde
Mit dem Eintritt in die Postmoderne in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kann eine Renaissance der Avantgarde beobachtet werden. Szabolcsi kommentiert dieses Ereignis im Jahr 1971 auf folgende Weise:
Things that were declared dead thirty years ago have risen from the dead; museum pieces come back to life once more. It certainly indicates that many of the questions the 'first avant-garde' posed have not been properly answered yet, and the problem of the function of art and the artist is far from being satisfactorily solved.1
Diese neue Avantgarde, auch Neo-Avantgarde genannt, kann mit Foster definiert werden als
loose grouping of North American and Western European artists of the 1950s and 1960s who reprised such avant-garde devices of the 1910s and 1920s as collage and assemblage, the readymade and the grid, monochrome painting and constructed sculpture.2
Die Neo-Avantgarde führt die historische Avantgarde nicht einfach weiter. Die Umstände avantgardistischen Schaffens hatten sich seit der historischen Avantgarde drastisch weiterentwickelt. Die Konsum- und Warengesellschaft der Nachkriegszeit hatte die Beziehungen zwischen Künstler, Material und Zuschauer grundlegend verändert.
Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte sich der Kunstmarkt außerdem von Paris nach Amerika verschoben. Ab nun galt es, „d’affirmer que l’art européen était aussi périmé que la vocation historique de l’Europe sur le plan politique. L’art se ferait désormais à New York“3. Die Aufwertung der amerikanischen Neo-Avantgarde als originär, innovativ und ideologiefrei im Gegensatz zur (vermeintlich) ideologiegeladenen und historisch gewordenen Avantgarde der Alten Welt führte zu neuen Wegen in der Avantgardeforschung. Mit zunehmender Distanz (insbesondere auch im Kontext der 68er-Bewegung) zu seiner verheerenden jüngeren Geschichte war eine kritische Aufarbeitung der faschistischen Vergangenheit Europas möglich geworden. Die historische Avantgarde hatte, so empfanden es viele, ihren Teil zur Katastrophe beigetragen. Die Liebäugelei der Futuristen und der Surrealisten mit dem Faschismus bzw. dem Kommunismus und Aussagen wie die Bretons („L’acte surréaliste le plus simple consiste, revolvers aux poings, à descendre dans la rue et à tirer au hasard, tant qu’on peut, dans la foule.“4) hat man der Avantgarde bis heute nicht verziehen. Aufgrund ihrer strukturellen und programmatischen Parallelen (z.B. Gruppencharakter, parteiähnliche Organisation, Disziplin, Aktionismus, doktrinäre Haltung, Hang zu Esoterik, Anti-Positivismus, Mystik und Okkultismus, Gewalttätigkeit und Aggressivität) erhärtete sich der Totalitarismusverdacht gegenüber der historischen Avantgarde. Politisch manifestiert hätten sich ihre totalitären Tendenzen in ihrer Verflechtung mit repressiven Diktaturen wie dem Stalinismus5 oder später mit dem Terror6 der 1960er und 1970er Jahre oder sogar des 11. Septembers 2001. Man darf den totalen Anspruch der historischen Avantgarde (d.h. ihre Intention, das Leben durch die Kunst zu revolutionieren) allerdings nicht mit einem totalitären Anspruch gleichsetzen, denn damit würde man die Avantgarde in ihrem selbstkritischen Moment7 unterschätzen. Die historische Avantgarde wollte die Demokratie nicht abschaffen, sie war sogar auf sie angewiesen.8 Das Europa der zweiten Jahrhunderthälfte, dem die zwei Weltkriege noch im Nacken saßen, stand gesellschaftlichen Ganzheitsentwürfen – wie die Avantgarde sie vorgeschlagen hatte – jedoch misstrauisch gegenüber und stempelte sie als ideologiegeladen und tendenziell gefährlich ab.
Weitaus unverfänglicher erschien dagegen eine Beschäftigung mit bisher marginalen Aspekten der Avantgarde, wie z.B. avantgardistischen Verfahrensweisen, einzelnen Künstlern und Künstlergruppen oder Minderheiten innerhalb der Avantgarde. Auch in Folge des postmodernen Relativismus und Dekonstruktivismus hat sich die Avantgardeforschung somit in verschiedene Teilbereiche ausdifferenziert. Ein Forschungsstrang widmet sich beispielsweise den weiblichen Akteuren der Avantgarde, wie z.B. Claude Cahun, Dora Maar, Germaine Dulac, Hannah Höch oder Sonia Delaunay.9 Frauen waren von der Avantgarde und der Avantgardeforschung bis in die 1970er Jahre vernachlässigt