Der umstrittene Begriff des Avantgardetheaters umfasst das Theater der historischen Avantgarde in der Zwischenkriegszeit, das nouveau théâtre der späten 1940er und der 1950er Jahre und das postdramatische Theater ab den 1960er Jahren. Der Zweite Weltkrieg kann insofern als Zäsur für das Avantgardetheater gelten, als sich die äußeren Bedingungen avantgardistischen Schaffens nach 1945 drastisch verändert hatten. Die Differenzen können wie folgt festgehalten werden:
Abb. 12
Mit dem postdramatischen Theater erfuhr das Avantgardetheater erneut einen Bruch, der es – diesmal von innen heraus – verwandelte:
Abb. 13
Trotz oder gerade aufgrund der Pluralität und Entgrenzung des Avantgardebegriffs besteht auch im 21. Jahrhundert noch immer Klärungsbedarf. Mit dem Altern der Avantgarde und den neuen Medien haben sich neue Bereiche für die Avantgardeforschung aufgetan. Dabei muss die Avantgarde sowohl als ästhetisches Phänomen, aber auch als revolutionäre Kraft betrachtet werden.
Schließlich bietet sich die Avantgarde auf ganz besondere Weise an für die wichtige Diskussion um das Praktischwerden von Literaturwissen und die gesellschaftliche Relevanz der Geisteswissenschaften, denn sie hat alternative Lebensentwürfe aufgezeigt und eine bessere Welt in Aussicht gestellt.
3 Das surrealistische Theater
3.1 Der Surrealismus
Das poetische Theater, das Gegenstand dieser Arbeit ist, steht in einer avantgardistischen Tradition und führt, das wird sich zeigen, das Theater des Surrealismus fort. Im Folgenden sollen der Surrealismus und sein Theater kurz skizziert werden, um später wichtige Verbindungslinien zwischen surrealistischem und poetischem Theater identifizieren zu können. Nach einem kurzen Abriss über den Surrealismus – eine vertiefte Auseinandersetzung ist z.B. bei Carrouges1 (1950), Nadeau (1964), Bréchon (1971), Durozoi2 (1997) und Murat (2013) zu finden – sollen die Stellung des Theaters im Surrealismus und die Theatralität der surrealistischen Bewegung beleuchtet werden. Unter Bezugnahme auf Schriften von Surrealisten oder Personen im Umkreis des Surrealismus sowie auf das von Henri Béhar formulierte Korpus surrealistischer Theaterstücke werden die wichtigsten Aspekte des surrealistischen Theaters, die später für das poetische Theater von Relevanz sein werden, zusammengefasst.
Als Gründungsdatum des Surrealismus gilt das Jahr 1924, in dem das Manifeste du surréalisme veröffentlicht wurde. Die surrealistische Gruppe hatte sich von den Dadaisten um Tristan Tzara losgesagt, da ihre Provokationen und Schockstrategien ins Leere gelaufen waren.3
Der Surrealismusbegriff war Jahre zuvor schon von Guillaume Apollinaire verwendet worden: im Programm zum Ballett Parade vom Mai 1917 hatte er die gelungene Vereinigung verschiedener Künste und Disziplinen als „une sorte de sur-réalisme“4 bezeichnet und darin die Ankündigung eines neuen Geistes gesehen. Im Vorwort zu seinem ebenfalls im Jahr 1917 aufgeführten Stück Les mamelles de Tirésias, das er als „drame surréaliste“ bezeichnet hat, liefert Apollinaire eine Definition des Surrealismus: „Quand l’homme a voulu imiter la marche, il a créé la roue qui ne ressemble pas à une jambe. Il a fait ainsi du surréalisme sans le savoir.“5 Die Realität dient als Ausgangspunkt für die Kunst, wird aber von dieser nicht photographisch als tranche de vie wiedergegeben, sondern als eine die objektiv wahrnehmbare Realität transzendierende Wirklichkeit.
Ein Anhänger des Apollinaireschen Surrealismus war Ivan Goll, der die Realität ebenfalls als Grundlage jeder Schöpfung betrachtete. In seinem Manifeste du surréalisme, das nur einige Tage vor dem seines Rivalen Breton veröffentlicht wurde, heißt es: „La réalité est la base de tout grand art. […] Tout ce que l’artiste crée a son point de départ dans la nature.“ Goll definiert den Surrealismus als „transposition de la réalité dans un plan supérieur (artistique)“6. Der Surrealismus ist Goll zufolge das, was übrigbleibt, wenn der Oberflächenrealismus durchdrungen wird und das Wahre an den Tag tritt. Im Vorwort zu seinem Stück Mathusalem (1920) ist zu lesen: „Le surréalisme est la plus forte négation du réalisme. Il fait apparaître la réalité sous le masque de l‘apparence, favorisant ainsi la vérité même de l’être.“7
Das Material des Künstlers ist die ganze Welt, so hat Pierre Albert-Birot, der ebenfalls den Surrealismus Apollinaires vertrat, es in seiner Erklärung zum „théâtre nunique“ von 1916 geschrieben: „Le monde entier est son atelier, le monde entier est son cabinet de travail, le monde entier est son modèle et il ne peut avoir que des aspirations à ce que l’on pourrait appeler le mondialisme ou l’universalisme.“8 Der Surrealismusbegriff ist also in den intellektuellen Pariser Kreisen schon in Gebrauch, bevor André Breton ihn für sich beansprucht. Der Apollinairesche Surrealismus strebt die Vereinigung verschiedener Künste an, er nimmt die Realität zum Ausgangspunkt und die Welt zum Materiallieferanten, er will nicht imitieren, sondern das ganze Leben auf die Bühne bringen.
In seinem Manifeste du surréalisme gibt Breton an, den Surrealismusbegriff von Apollinaire zu dessen Ehren übernommen zu haben, weist allerdings auch darauf hin, dass das Wort sich erst mit ihm, Breton, und seiner Gruppe durchgesetzt habe. Breton definiert den Surrealismus in einer Art Enzyklopädieeintrag als
[a]utomatisme psychique pur par lequel on se propose d’exprimer, soit verbalement, soit par écrit, soit de toute autre manière, le fonctionnement réel de la pensée. Dictée de la pensée, en l’absence de tout contrôle exercé par la raison, en dehors de toute préoccupation esthétique ou morale.9
Mit Breton schlägt der Surrealismus eine neue Richtung ein. Der Begriff bezeichnet nun das wahre Denken, das sich frei von Vernunft, Ästhetik- und Moralvorstellungen entfaltet. Der Bretonsche Surrealismus verweilt nicht im Bereich der Kunst, sondern arbeitet an der „résolution des principaux problèmes de la vie“10 und wird damit zu einer Wissenschaft der Lebensbewältigung, die nun auch dem bisher unbeachteten Bereich des Unbewussten, der Träume und Mythen einen wichtigen Platz einräumt. Im Manifeste soll die gesellschaftliche Veränderung noch über den Geist des Individuums vollzogen werden, Konzepte wie Familie, Vaterland, Religion, Arbeit und Ehre, die im Krieg so viele Opfer gefordert hatten, wurden gegen die Begriffe Poesie, Liebe und Freiheit eingetauscht.
Die im Jahr 1919 von Breton, Aragon und Soupault gegründete Zeitschrift Littérature war das Organ der vorsurrealistischen Gruppe. Der ironisch gemeinte Titel basiert auf einem Zitat Verlaines aus dem Gedicht L’Art poétique („Et tout le reste est littérature“), verweist aber dennoch auf die literarischen Wurzeln des Surrealismus.
Im Jahr 1924 wurde Littérature dann von der Zeitschrift La Révolution surréaliste abgelöst, ein Titel, der auf eine zunehmend anti-literarische, anti-künstlerische Tendenz innerhalb der surrealistischen Bewegung verweist. Ab Mitte der 1920er Jahre stellt sich für die Surrealisten immer dringlicher die Frage nach einem politischen Engagement, das sie schließlich 1927 mit ihrem Eintritt in die Kommunistische Partei verwirklichen. In Au grand jour (1927) heben sie die Konkordanz zwischen Surrealismus und Kommunismus hervor und verurteilen die ehemaligen Weggefährten Soupault und Artaud aufgrund ihrer „poursuite isolée de la stupide aventure littéraire“11. Die Surrealisten befinden sich in einer schwierigen Phase zwischen Selbstauflösung innerhalb der Kommunistischen Partei und Rückkehr in ihre wirkungslose, weil selbstgenügsame und ästhetizistische, Ausgangsphase. Trotz dieser Schwierigkeiten blühte die Produktion surrealistischer Texte in dieser Zeit.
La révolution surréaliste wurde 1930 von einer neuen Zeitschrift, Le surréalisme au service de la révolution, abgelöst. Im selben Jahr veröffentlichte Breton das Second manifeste du surréalisme, in dem der Surrealismus auf einen strengeren Kurs eingenordet und von Elementen, die der surrealistischen Sache nicht dienlich waren, befreit werden sollte. Hierzu gehören auch die Abrechnung Bretons mit ehemaligen Gruppenmitgliedern (Soupault, Vitrac, Artaud, Desnos, Duchamp,