Im Theaterbereich koexistieren das dramatische und das postdramatische Theater im 21. Jahrhundert weiter. Ein Jahrzehnt nach der Veröffentlichung seiner Studie über das postdramatische Theater hat Lehmann neue Schwerpunkte am Theater unter anderem im Dialog des Theaters mit der Gesellschaft, im Gruppencharakter und im wieder erstarkenden Trend hin zum Sprechakt identifiziert.8 Es fällt auf, dass die Theorie, die ja eigentlich bestimmte Phänomene ex post beschreiben soll, oftmals die Theaterpraxis beeinflusst hat. So hat das im Jahr 1982 von Andrzej Wirth gegründete und von Lehmann maßgeblich mitgestaltete Institut für Angewandte Theaterwissenschaft der Universität Gießen zahlreiche postdramatische Gruppen (z.B. Rimini Protokoll, SheShePop, Showcase Beat Le Mot) und Regisseure (z.B. René Pollesch) hervorgebracht.
Es gibt also noch immer Betätigungsfelder für die Avantgardeforschung. Dabei darf sich der Blick nicht nur auf diejenigen avantgardistischen Anstrengungen verengen, die die Überführung der Kunst in Lebenspraxis zum Ziel haben, sondern muss auch Praktiken und Techniken der Avantgarde miteinschließen. So hat beispielsweise die Leiterin der Documenta 13, Carolyn Christov-Bakargiev, in Interviews einerseits ihr Interesse für „surrealistische Strategien einer künstlerischen Praxis“9 bekundet und andererseits erklärt, sie verstehe den Surrealismus als eine sich besonders in Krisenzeiten manifestierende innere Freiheit, „die in die reale Welt geht“10. Damit spricht sie zwei unterschiedliche – aber komplementäre –Perspektiven auf die Avantgarde an: erstens die Avantgarde als Erneuerung des Repertoires ästhetisch-formeller Verfahrensweisen (Kunst als Zweck/Material/Verfahren), zweitens die Avantgarde als gesellschaftliche Revolution (Kunst als Mittel/Revolution). Diese zwei Kategorien muss man im Blick haben, wenn man die Avantgarde als Ganzes erfassen will. Während Theorien, die die Avantgarde in der Tradition der Moderne sehen, den Fokus eher auf künstlerische Verfahrensweisen legen, betonen Theorien, die die Avantgarde als Bruch konzipieren, eher ihr revolutionäres Potential.
Die Avantgarde bleibt in Alltag, Kunst und Wissenschaft somit bis heute ein permanenter Bezugspunkt und ein „Gespenst […], das immer wieder und in immer anderen Erscheinungsformen in Kunst und Literatur herumspukt“11. Schließlich sollte man den Avantgardediskurs vielleicht mit Bru12 im Sinne eines Praktischwerdens von Wissen betrachten, das wir uns über Kunst und Literatur aneignen und das auch die jenseits der Kunst liegenden Bereiche unseres Lebens informiert und bereichert. In ihrem Bestreben, Kunst in Lebenspraxis zu überführen, positioniert sich die Avantgarde innerhalb der von Ottmar Ette angestoßenen Diskussion um das Praktischwerden literaturwissenschaftlichen Wissens mit dem Ziel, „Kunst und Literatur als Erlebenswissen, als Überlebenswissen und als Zusammenlebenswissen“13 zu begreifen. Es gilt, die herrschende Diskrepanz zwischen den gesellschaftsrelevanten „Life Sciences“ und den autonomen, selbstreferentiellen „Humanities“ zu überwinden und die Bedeutung von Literatur und Kunst für das Leben in den Fokus zu rücken. Jede Wissenschaft, auch die Literaturwissenschaft, muss ihr Wissen in die Gesellschaft tragen. Literatur, so Ette, „vermittelt stets ein spezifisches Wissen davon, wie man lebt oder leben könnte – und […] auch ein Wissen davon, wie man nicht (über-)leben kann“14. Aufgrund ihres performativen Charakters kann die Avantgarde somit zur „introduction to right living“15 werden. Asholt hält deshalb dazu an, die Avantgarde
als ein besonderes Experiment mit Lebenswissen zu verstehen. […] Literatur und Kunst hätten demzufolge die Funktion, mehr und vor allem anderes vom Leben zu wissen, als das Wissen der Life Sciences. Dieses Wissen, so wissen wir seit den Avantgarden, sollte, gerade weil es gegenüber dem Lebenswissen exzessiv ist, sich nicht im als autonom in Anspruch genommenen Raum seiner Exzessivität einrichten, sondern […] 'praktisch' werden und versuchen, das besondere Lebenswissen von Kunst und Literatur, man könnte auch sagen, das Wissen um die Möglichkeiten eines anderen Lebens, in die Lebenspraxis zurückzuführen.16
2.8 Zusammenfassung
Nachdem der ursprünglich aus dem Militärischen stammende Avantgardebegriff spätestens Anfang des 20. Jahrhunderts ins literarisch-künstlerische Feld übergetreten war, hat er in der heutigen Waren- und Konsumgesellschaft endgültig seine Entgrenzung erfahren und ist aus unserem heutigen Alltag nicht mehr wegzudenken. Heute ist alles Avantgarde, was sich als solche bezeichnet, deshalb ist ein linearer und relativer Avantgardebegriff unbrauchbar geworden.
Der Avantgardebegriff wird daher als Epochenbegriff verwendet und bezeichnet die frühe und sogenannte historische Avantgarde zwischen dem ersten futuristischen Manifest und dem Zweiten Weltkrieg. Sie wird vor allem durch ihren Gruppencharakter, ihren Versuch, Kunst in Lebenspraxis zu überführen und die Auflösung der traditionellen Triade Künstler-Kunstwerk-Rezipient charakterisiert.
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts feiert die Avantgarde durch die Studentenproteste und den Eintritt der westlichen Welt in die Postmoderne als Neo-Avantgarde ihr Comeback. Allerdings hatten sich die Umstände avantgardistischen Schaffens grundlegend verändert. Die Avantgarde operierte inzwischen im spätkapitalistischen Kontext einer fortgeschrittenen Waren- und Konsumgesellschaft. Der Kunstmarkt hatte sich nach dem Zweiten Weltkrieg von Europa nach New York verschoben, wo eine vermeintlich ideologiefreie neo-avantgardistische Kunst produziert wurde: aus der zeitlichen und räumlichen Distanz heraus war die frühe Avantgarde in Verruf geraten, schließlich hatte sie nach der Einschätzung mancher mit ihren totalitären Zügen und ihrer Fortschritts- und Geschichtsgläubigkeit die europäische Katastrophe mitzuverantworten. Nachdem die frühe Avantgardeforschung auf der Suche nach einer umfassenden Theorie gewesen war, die die unterschiedlichen avantgardistischen Ismen synthetisieren sollte, differenzierte sie sich mit dem Eintritt der westlichen Gesellschaft in die Postmoderne in den 1980er Jahren aus in verschiedene Teilbereiche und widmete sich bisher unbeachteten Themen, wie z. B. der Position der Frau in der Avantgarde.
Es galt fortan, historische und Neo-Avantgarde zueinander zu positionieren. In der europäischen und insbesondere in der theorieaffinen deutschsprachigen Forschung wurde die historische Avantgarde als tiefgreifender Einschnitt in Kunst und Kultur erlebt. Die Avantgarde brach mit der Moderne und versuchte als erste künstlerische Bewegung, die Institution Kunst zu verlassen und von der Kunst her das Leben zu verändern. Nachdem dieser Versuch mit der Einverleibung der Avantgarde durch die widerstandsfähige Institution Kunst gescheitert war, erreichte die nachfolgende Kunst nie mehr die radikale und revolutionäre Kraft der frühen Avantgarde. Im anglo-amerikanischen Raum dagegen wurden die Errungenschaften der historischen Avantgarde, die dort keine große Rolle gespielt hatte, so gut wie ausgeblendet. Erst mit der Neo-Avantgarde hatte eine echte Revolution in Kunst und Kultur stattgefunden.
In der Avantgardeforschung haben sich im Laufe der Zeit verschiedene Denkfiguren herausgebildet, die aber nicht als konkurrierend aufgefasst werden sollten, sondern als einander ergänzend und erhellend. Diese Figuren befassen sich mit verschiedenen Fragen. Steht die Avantgarde in der Tradition der Moderne oder bricht sie mit ihr? Ist die Avantgarde vor allem ein ästhetisches oder ein politisches Phänomen? Inwiefern ist die Avantgarde in ihrem Bestreben, die Kunst in Lebenspraxis zu überführen, gescheitert? Wie positioniert sich die Avantgarde zu Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft? Wie positioniert sie sich zum Raum?
Angesichts der Fülle an Avantgardetheorien mag es verwundern, dass das Theater bisher noch keinen prominenteren Platz in der Avantgardeforschung eingenommen hat, schließlich können viele Aspekte,