Genau dieses Phänomen des plötzlichen Aufblitzens hat Michel Foucault in seiner Préface à la Transgression (1963) als Grenzüberschreitung beschrieben. Ihm zufolge ist das Verhältnis zwischen Transgression und Grenze nicht in oppositionellen Kategorien zu denken, es löst sich vielmehr von dialektisch-binären Einschränkungen und gleicht eher einem
éclair dans la nuit, qui […] donne un être dense et noir à ce qu’elle nie, l’illumine de l’intérieur et de fond en comble, lui doit pourtant sa vive clarté, sa singularité déchirante et dressée, se perd dans cet espace qu’elle signe de sa souveraineté et se tait enfin, ayant donné un nom à l’obscur.8
In dem kurzen, luziden Moment des „éclair dans la nuit“ wird die Grenze aufgehoben. Übertragen auf die Avantgarde könnte man davon sprechen, dass in ihrem utopischen Bestreben, Kunst in Leben zu überführen, ein punktuelles Gelingen dieses Vorhabens aufblitzt. Die Transgression bestätigt gleichzeitig die Existenz sowie die Absenz der Grenze.
Auch wenn die Avantgarde die Grenze nicht dauerhaft überschreiten konnte, ist es doch ihr großes Verdienst, „erstmals diese Grenze unübersehbar in den Mittelpunkt gerückt“9 zu haben. Die Radikalität der Avantgarde werde durch die Nicht-Einlösung ihrer Forderungen in der Zukunft nicht entkräftet, denn die Brisanz einer Utopie liege „nicht im fernen Gefilde, sondern gerade in der Nähe, in der Kritik der Gegenwart, der sie die Alternative aufzeigt.“10
2.5.7 Avantgarde als ineinander ragende Ecken und Kanten
Abb. 7
Das traditionelle Bild der Avantgarde war das einer linearen Bewegung, die sich von einem Zentrum (Europa) nach außen ausgedehnt hat. In Apollinaires L’Esprit Nouveau et les Poëtes wird diese Ansicht deutlich:
La France, détentrice de tout le secret de la civilisation, […] est […] devenue pour la plus grande partie du monde un séminaire de poëtes et d’artistes, qui augmentent chaque jour le patrimoine de sa civilisation. […] Les Français portent la poésie à tous les peuples.1
James Harding (2006) hat diese eurozentrische Auffassung als falsche und ideologiegeladene Einflussthese zurückgewiesen. Er datiert das Emporkommen der Avantgarde auf die kolonialistische Blütezeit, in der “edge-to-center/center-to-edge relationships”2 üblich waren. Er verwirft die lineare und binäre Avantgardekonzeption, die in Kategorien wie „vorher-nachher“, „Europa-Rest der Welt“, „Zentrum-Rand“ denkt. Ihm zufolge ist das Bild der Avantgarde als „cutting edge“, die in den leeren Raum hineinragt, obsolet. Die Avantgarde sei kein hegemonisches und homogenes Konstrukt mit Zentrum in Europa, von dem aus sie sich in die nicht-europäische Welt verbreitet habe.
Stattdessen schlägt Harding ein transnationales, nicht-lineares und dezentriertes „rough edges“-Avantgardekonzept vor, „whose territorial coordinates were always already heterogeneous, dispersed, and diversely located in moments of contestation.“3 Die Ecken und Kanten ragten ineinander über und löschten sich gegenseitig aus, ihre Friktion produziere avantgardistische Aktivität. Dieses heterogene und geographisch zersplitterte Modell erkläre auch die Simultaneität von avantgardistischen Praktiken innerhalb und außerhalb von Europa. Damit bricht Harding mit der traditionellen Idee von der Avantgarde als einem überwiegend eurozentrischen, weißen und männlichen Phänomen. Der Gedanke wird später von Listengarten und Knopf aufgegriffen, die in ihrer Anthologie des Avantgardetheaters davon ausgehen, dass
the relationship among the avant-garde(s) and the mainstream(s) are never simple or stable. They reveal multiple tensions between negation and appropriation, resistance and acceptance, rebellion and compromise4.
2.5.8 Avantgarde als Bogen in die Vergangenheit
Abb. 8
Eine Avantgardefigur ist besonders bei Theaterschaffenden verbreitet: die der Avantgarde als Rückkehr in eine längst verlorene Vergangenheit. Ionesco zufolge bricht der Avantgardekünstler zwar mit der Gegenwart und der nahen Vergangenheit, doch er „essaie de rejoindre, en la modernisant, une tradition vivante, qui s’est perdue“ und betreibt „une véritable tentative de retour aux sources“. Die Avantgarde mit ihrem „refus du traditionalisme pour retrouver la tradition“1 schlägt also einen Bogen in eine ferne Vergangenheit und versucht, eine längst vergessene Wahrheit wieder in das Hier und Jetzt zu integrieren.
Auf ähnliche Weise hat der Theatermacher Richard Schechner diesen „back-to-the-roots“-Gedanken der Avantgarde aufgegriffen: „The avant-garde is the most radical (= to the roots) version of the traditional.“2
Auch Benay sah im Avantgardetheater der Nachkriegszeit nicht nur den Versuch, ein sklerosiertes, realistisch-psychologisches Theater zu reformieren, sondern vor allem die Suche nach fundamentalen Theatergesetzen, die an das glorreiche Theater der Vergangenheit (das griechische Theater, Shakespeare, Racine, Pascal, La Fontaine, Molière) anknüpften. Er spricht deshalb vom neuen Klassizismus des Avantgardetheaters:
Qu’est-ce donc que l’avant-garde? Avec Ionesco on est en droit de répondre qu’elle n’existe pas. Car, en effet, toute bonne avant-garde est celle qui, en dernier lieu, se laisse intégrer dans la grande tradition théâtrale, c’est-à-dire le classicisme qui est liberté de même qu’éternel rajeunissement des formes et constante valorisation des vérités permanentes.3
2.5.9 Avantgarde als Hohlraum zwischen Vergangenheit und Zukunft
Abb. 9
Michael Pfeiffer denkt die Avantgarde als „Phänomen von Epochenschwellen“1, das in historischen Umbruchsituationen greife, wo Vergangenheit und Zukunft besonders stark auseinanderklafften und einen Hohlraum ließen für avantgardistische Aktivität. In diesem Hohlraum übten die avantgardistischen Autoren den Spagat zwischen Vergangenheit und Zukunft, könnten sich aber nicht langfristig in dieser anstrengenden Tanzfigur halten, weshalb die Avantgarde stets nur von kurzer Dauer sei.
2.5.10 Avantgarde als akzelerierte Geschichten innerhalb der Geschichte
Abb. 10
Didier Plassard hat ein weiteres zeitliches Avantgardemodell vorgeschlagen. Er beschreibt die historische Avantgarde als „des cellules d’histoire rapide à l’intérieur de l’histoire plus lente des modes de perception et de production artistiques.“1 Mit diesem Bild schafft er es, den Widerspruch einer Avantgarde, die einerseits ihrer Zeit voraus ist, andererseits aber ein Produkt ihrer Zeit ist und auf diese reagiert, aufzulösen.
Die Denkfiguren der Avantgarde sind zahlreich. Allen gemeinsam ist eine zeitliche und/oder räumliche Vorstellung von der avantgardistischen Aktivität. Man muss die unterschiedlichen Avantgardekonzeptionen – wie van den Berg2 es für Bürgers Theorie getan hat – als „Scheinwerfermodelle“ verstehen, die ihr Objekt nur einseitig erhellen und ringsum Vieles im Dunkeln lassen oder verzerrt darstellen. Doch wenn jede Figur wie ein Scheinwerfer auf die Avantgarde fällt, dann gelingt es vielen Scheinwerfern, ihr Objekt so gut und präzise wie möglich auszuleuchten. So muss man auch die Denkfiguren verstehen: nicht etwa als miteinander