Im Folgenden werden die wichtigsten Aspekte einer surrealistischen Theaterästhetik untersucht. Diese werden später für die Theaterpoeten eine wichtige Rolle spielen.
3.4.1 Poesie
In seinem in der Zeitschrift Le Surréalisme au Service de la Révolution veröffentlichten Essai sur la situation de la poésie (1931) hat Tristan Tzara, der von Breton im Second manifeste retabliert worden war, das Poesieverständnis der historischen Avantgarde auf den Punkt gebracht. Hier skizziert Tzara die Entwicklung der Poesie von einem bloßen Ausdrucksmittel hin zur Aktivität des Geistes. Die „poésie activité de l’esprit“ ist für Tzara die einzig akzeptable Form der Poesie:
Dénonçons au plus vite un malentendu qui prétendait classer la poésie sous la rubrique des moyens d’expression. La poésie qui ne se distingue des romans que par sa forme extérieure, la poésie qui exprime soit des idées, soit des sentiments, n’intéresse plus personne. Je lui oppose la poésie activité de l’esprit.1
Die Poesie erfährt im Surrealismus eine Entgrenzung, sie bricht aus dem Gedicht aus und ein in den Alltag, auf die Straße, in die populäre Kultur. Plötzlich ist sie, so Tzara, kein Selbstzweck mehr („la poésie n’a pas de fin en soi“2), sie kann nun auch „en dehors du poème“3 existieren. Und auch der Poet ist nicht mehr unbedingt derjenige, der Gedichte schreibt, denn „[i]l est parfaitement admis aujourd’hui qu’on peut être poète sans jamais avoir écrit un vers“4. Die Poesie ist keine Kategorie der Literatur mehr, sondern, so Breton und Eluard, „le contraire de la littérature“5. Sie steigt von ihrem Elfenbeinturm herab, um zum „élément de vie“6 zu werden, sie wird praktisch und geht in das Leben hinein. Das bedeutet auch, dass jeder dazu befähigt ist, Poet zu sein. Der von den Surrealisten verehrte Lautréamont hatte in Poésies II (1870) die Notwendigkeit einer Demokratisierung der Poesie („La poésie doit être faite par tous. Non par un.“7) sowie ihr Praktischwerden („La poésie doit avoir pour but la vérité pratique.“8) bereits betont. In Anlehnung an Lautréamont hatte Breton im Manifeste du surréalisme gefordert, man müsse „pratiquer la poésie“9. Die echte Befreiung des Menschen konnte für die Surrealisten allein durch die praktisch gewordene Poesie erfolgen. Ende der 1960er Jahre erzählte Soupault, wie die surrealistischen Experimente ihn und Breton dazu gebracht hatten,
à considérer la poésie comme une liberátion, comme l’unique possibilité d’accorder à l‘esprit une liberté que nous n’avions connue ou voulu connaître que dans nos rêves et de nous délivrer de tout l’appareil logique.10
Die angewandte Poesie vermag es, den Menschen aus seinem vernunftgesteuerten Alltag, seinen festgefahrenen Strukturen und Gewohnheiten zu befreien und ihn in einen Zustand der absoluten Freiheit zu versetzen, die er üblicherweise nur im Traum erlebt. Aufgrund ihres weltverändernden Potentials ist die Poesie also eine ernste Angelegenheit. Wie ernst, das ist in Comme il fait beau! zu sehen, wo die Poesie zur Frage von Leben und Tod wird. Die Dschungelbewohner klagen über eine sandige Luft, die das Atmen immer schwerer macht: „Il souffle sous ces arbres un vent de poésie absolument irrespirable“ (444). Am Ende ersticken die Tiere am Wind der Poesie.
3.4.2 Sprache
In Du surréalisme en ses œuvres vives (1955) schrieb Breton: „[L]e surréalisme, en tant que mouvement organisé, a pris naissance dans une opération de grande envergure portant sur le langage.“1 Die Sprache war das zentrale Element in der surrealistischen Poetik. Dies überrascht nicht angesichts des literarischen Hintergrunds der Surrealisten, deren erstes Organ Anfang der 1920er Jahre die vor-surrealistische Zeitschrift Littérature (1919-1924) gewesen war. Durch einen surrealistischen Gebrauch sollte die Sprache von ihren starren Regeln und verstaubten Konventionen befreit werden, damit Platz für neue und unerwartete Wortkombinationen, Bilder und Gedanken gemacht werden konnte: „Le langage a été donné à l’homme pour qu’il en fasse un usage surréaliste“2, so Breton. Die Surrealisten wollten
retrouver le secret d’un langage dont les éléments cessassent de se comporter en épaves à la surface d’une mer morte. Il importait pour cela de les soustraire à leur usage de plus en plus strictement utilitaire, ce qui était le seul moyen de les émanciper et de leur rendre tout leur pouvoir.3
Die Sprache hatte sich abgenutzt und ihre Strahlkraft verloren, sie war nicht mehr in der Lage, neue Gedanken hervorzubringen, sie war kein Zweck an sich mehr, sondern nur noch Ausdrucksmittel für veraltete Ideen. Vitrac hat dies in seinem Aufsatz Le langage à part (1929) beklagt:
Les mots sont usés, ou morts. Ils sont devenus un moyen pitoyable. Ils furent autrefois une fin. Ils se confondaient avec l’absolu. Aujourd’hui, ils nous portent à peine aux frontières des vieilles idées. Ils sont à ce point déchus, que l’activité moderne s’en passe facilement, ou ne se sert que de leurs déchets.4
Bei den Surrealisten wird das Wort aus seinem literarischen und damit gesellschaftlich wirkungslosen Kontext befreit und wird nun zu einer ganz konkreten Realität. „[I]l n’y a pas de pensée hors des mots“ 5 und „ce qui est pensé est“6, schrieb Aragon: Sprache = Denken = Realität, so geht die surrealistische Gleichung. Um ein neues Denken und damit eine neue Realität einzuleiten, musste man Wege finden, um, so Vitrac, „la magie et le pouvoir occulte du langage“7 wiederzufinden. Die surrealistischen Sprachforschungen waren deshalb keinesfalls bloß eine harmlose Spielerei, sondern eine ernstzunehmende Bemühung, die Realität durch den Sprachgebrauch neu zu formen. In Hugnets La Justice des Oiseaux (1939 veröffentlicht) wird auf diese Ernsthaftigkeit verwiesen: „je dois vous prévenir qu’on ne joue pas ainsi avec des phrases. Il y en a qui peuvent causer des catastrophes comme il y en a qui établissent la bonne réputation d’un homme“ (12).
Besonders der Dialog eignet sich für die surrealistische Sprache: „C’est encore au dialogue que les formes du langage surréaliste s’adaptent le mieux“8, schrieb Breton. Der surrealistische Dialog hat nicht die logische Erörterung eines Themas zum Ziel, sondern er besteht aus einer Abfolge unzusammenhängender Repliken und assoziativer Tiraden, die sich jedem sozialen Zwang, jeder Zweckmäßigkeit entziehen. Die aus Lautréamonts Poetik stammenden Figuren Parapluie und Machine à coudre in Vous m’oublierez (1920 veröffentlicht) zapfen zum Beispiel eine für jeden zugängliche poetische Sphäre an. Die Bilder, die der eine produziert, dienen dem anderen als Sprungbrett in sein eigenes Unbewusstes:
Le surréalisme poétique […] s’est appliqué jusqu’ici à rétablir dans sa vérité absolue le dialogue, en dégageant les deux interlocuteurs des obligations de la politesse. Chacun d‘eux poursuit simplement son soliloque, sans chercher à en tirer