Das Grösser ist also eine axiologische Qualität, demnach GottGott „etwas ist, das alles überragt, über das hinaus nichts Besseres [nihil melius] gedacht werden kann“11. Er vereinigt all das in seinem WesenWesen, was zu sein „absolut besser [absolute melius]“ ist, „als nicht zu sein“.12 Entscheidend ist der „BegriffBegriff ‚Wesen, das alle Vollkommenheiten in sich enthält‘“13. In diesem und nur in diesem einzigartigen Falle des Wesens, das alle Vollkommenheiten in sich enthält, ist die wirkliche ExistenzExistenz eine VollkommenheitVollkommenheit. Existierte dieses Wesen nämlich bloss in Gedanken, so wäre es nicht das vollkommenste WeseWesenn, denn es könnte ja ein Wesen gedacht werden, das nicht nur in Gedanken, sondern auch in WirklichkeitWirklichkeit existiert. Das aber wäre dann ein vollkommeneres Wesen, als ein nur in Gedanken existierendes. Folglich existiert das vollkommene Wesen nicht nur in Gedanken, sondern auch in Wirklichkeit.
Bei diesem Gedankengang setzt AnselmAnselmvon Canterbury freilich nicht voraus, dass das abschliessende VerstehenVerstehen des Wesens dessen, über den hinaus nichts Grösseres und nichts Besseres gedacht werden kann, überhaupt möglich ist. Er setzt nur soviel voraus, wie er in seiner Erwiderung auf die Einwände Gaunilos – einem Zeitgenossen Anselms, deren Kritik im nächsten Punkt behandelt werden wird – klarstellt, dass vom WesenWesen Gottes soviel verstanden wird, wie für das Verständnis dieses Gedankenganges vonnöten ist. „Wenn du [GauniloGaunilo] nun behauptest, das, was nicht ganz und gar verstanden sei, sei so gut wie nicht verstanden und nicht im Verstande, dann behaupte auch, dass derjenige, der das reinste Licht der Sonne nicht anschauen kann, das Tageslicht nicht sieht, das nichts anderes ist als das Sonnenlicht.“14
Doch grundsätzlich gefragt: Wie will man überhaupt denkerischen Zugang zum WesenWesen Gottes erhalten? Ist nicht jede Rede von GottGott anthropomorphanthropomorph, wie XenophanesXenophanes es den alten Mythen und Ludwig FeuerbachFeuerbachLudwig der christlichen ReligionReligion vorgeworfen haben?
4.2 GauniloGaunilo und die erste Kritik am ontologischen ArgumentArgument
Die erste literarisch greifbare PersonPerson, die Anselms Gedankengang explizit kritisiert hat, war – der bereits erwähnte – GauniloGaunilo (ca. 1000–1083), ein Benediktinermönch aus dem in der Nähe von Tours gelegenen Kloster Marmoutiers.1 Noch heute findet er Befürworter „seiner Kritik des Beweises von AnselmAnselmvon Canterbury“, die sich dafür aussprechen, dass Gaunilo zurecht auf den entscheidenden Fehler des Arguments hingewiesen habe.2 Worum es sich bei diesem Fehler handelt, lässt sich Gaunilos Worten selbst entnehmen:
Wie also wird mir bewiesen, dass jenes „grösser“ gemäss der wahren WirklichkeitWirklichkeit nach besteht, weil feststeht, dass es grösser als alles sei, während ich dies doch noch verneine und bezweifle, derart, dass ich behaupte, nicht einmal in meinem Verstande oder in meinem Denken sei dies „grösser“ selbst wenigstens auf dieselbe Weise wie auch vieles Zweifelhafte und Ungewisse? Zuerst nämlich ist es notwendig, dass ich die GewissheitGewissheit erlange, dass irgendwo dieses „grösser“ selbst in Wirklichkeit sei, und dann erst wird es auch nicht mehr zweifelhaft sein, dass es, aufgrund der Tatsache, dass es grösser ist als alles, auch in sich selbst Bestand habe.3
Zur Illustration bedient er sich des bekannten Beispiels von der gedachten „Insel, die vortrefflicher [praestantiorem] ist als alle Länder“4. Und „weil es vortrefflicher ist, nicht im Verstande allein, sondern auch in WirklichkeitWirklichkeit zu sein [quia praestantius est, non in intellectu solo sed etiam esse in re]“, so existiert sie notwendigerweise auch in WirklichkeitWirklichkeit; denn „wäre sie nämlich nicht, dann wäre jedes andere Land, das wirklich ist, vortrefflicher als sie, und so wäre sie, die […] als die vortrefflichere begriffen worden ist, nicht die vortrefflichere“.5
Was GauniloGaunilo an Anselms Gedankengang bemängelt, das ist, dass die notwendige ExistenzExistenz dessen, „über das hinaus nichts Grösseres gedacht werden kann“6, apriorisch erkannt werden soll, währenddem er selbst – Gaunilo – die ErkenntnisErkenntnis der notwendigen Existenz nur aposteriorisch für möglich hält. Was seinen Worten zu entnehmen ist: „Zuerst nämlich ist es notwendig, dass ich die GewissheitGewissheit erlange, dass irgendwo dieses ‚grösser‘ selbst in WirklichkeitWirklichkeit sei, und dann erst wird es auch nicht mehr zweifelhaft sein, dass es, aufgrund der Tatsache, dass es grösser ist als alles, auch in sich selbst Bestand habe.“7
Wenn Franz von KutscheraKutscheraFranz von das ArgumentArgument von GauniloGaunilo für „ebenso korrekt [hält] wie das von AnselmAnselmvon Canterbury“8, dann ist das aus der Sicht der formalen LogikLogik stimmig. Nicht aber, wenn es aus materialer Sicht betrachtet wird. Denn wenn von KutscheraKutscheraFranz von meint, Gaunilo hätte „den BeweisBeweis Anselms dadurch ad absurdum geführt, dass er nach demselben Schema die ExistenzExistenz einer vollkommenen Insel nachwies“, indem er sagte: „Eine in jeder Hinsicht vollkommene (schöne, fruchtbare, klimatisch bevorzugte etc.) Insel ist denkbar, existiert also in intellectu. Würde sie nicht tatsächlich existieren, so wäre sie nicht vollkommen. Also existiert sie.“9 Bei diesem Gedankengang werden die Sachen selbst – im Kantschen Sinne – auf ihre blosse FormForm reduziert, ganz ausser Acht wird jedoch gelassen, dass das SoseinSosein einer Insel und das Sosein Gottes in materialer Hinsicht nicht nach demselben Schema behandelt werden können.10 Das wird sich zeigen, wenn weiter unten die reinen Vollkommenheitenreine Vollkommenheiten als die einzigen Momente eines adäquaten Gottesbegriffs herausgearbeitet werden.11
4.3 Die Einwände gegen das ontologische ArgumentArgument durch Thomas von AquinThomas von Aquin und Immanuel KantKantImmanuel
Zu den namhaftesten Kritikern sind aus erkenntnistheoretischer Sicht Thomas von AquinThomas von Aquin und Immanuel KantKantImmanuel zu rechnen. Während Thomas von Aquin – im Anschluss an GauniloGaunilo – die Möglichkeit der unmittelbaren Erkennbarkeit Gottes verneinte und nur die Möglichkeit der mittelbaren ErkenntnisErkenntnis zu begründen wusste, war GottGott auch nach KantKantImmanuel nicht unmittelbar zu erkennen. Doch hielt er ihn auch auf indirektem Wege nicht für erkennbar, vielmehr reduzierte er ihn – wie gesehen – auf ein blosses Postulat, d.h. auf eine theoretische Annahme, um sittliche TatsachenTatsachen verstehen zu können.
Thomas wendet sich in seiner theologischen Summe ausdrücklich, wenn auch nicht unter Nennung des Namens, gegen Anselms ArgumentArgument. Wie GauniloGaunilo, so hält auch er das ontologische Argumentontologische Argument für einen unerlaubten Schritt aus der Denk- in die Seinsordnung. Denn
auch zugegeben, dass jedermann unter dem Ausdruck ‚GottGott‘ ein WesenWesen verstehe, über das hinaus nichts Grösseres gedacht werden kann, so folgt daraus noch nicht, dass man dieses durch den Namen ‚Gott‘ bezeichnete Wesen auch als wirklich seiend erkenne, sondern nur, dass es sich in unserem Denken findet.1
„Da wir aber gerade das, was GottGott ist, mit dem GeistGeist nicht begreifen können, bleibt es in Bezug auf uns unerkannt.“2 Denn man müsse die bezeichnete Sache und den begrifflichen Gehalt des Wortes auf derselben Ebene ansetzen.3 Angesichts dessen, dass der MenschMensch nachweislich die Möglichkeit hat, Erkenntnisse über transzendente Wirklichkeiten zu erlangen,4 erscheint das zuletzt genannte Postulat des Thomas von AquinThomas von Aquin zumindest als problematisch.5 An dieser Stelle sei sein Gedankengang immerhin bis zu der Stelle weiter entwickelt, an der seine Absicht offen zutage tritt. Der Mensch, so Thomas, könne Gott „nicht in ihm selbst schauen […], sondern nur in seinen Wirkungen [ex effectibus], und der somit nur durch Schlussfolgern [ratiocinando] zur ErkenntnisErkenntnis, dass Gott ist, geführt wird“6. „Daher muss der Mensch durch die in den Wirkungen entdeckten Ähnlichkeiten zur GotteserkenntnisGotteserkenntnis auf dem Wege der SchlussfolgerungSchlussfolgerung gelangen.“7
Mit diesen Schlussfolgerungen bezieht er sich auf die bereits erwähnten fünf Wege (quinque viae). Bei allen steht am Anfang die