Sting betont, dass ein alleiniges „Bestaunen des Anderen“ und ein „multikulturelles Nebeneinander“ wenig Perspektiven für die Reflexion divers-kultureller Gesellschaften bieten. Doch meines Achtens tendieren ebenso Theaterarbeiten, die eine eher transkulturelle Ausrichtung auf ihre Fahnen schreiben, dazu, ein in der Tendenz westlich ausgerichtetes Modell von Ästhetik zu favorisieren. Auch wenn „Neues neben und jenseits bestehender Kulturen“ generiert wird, geschieht dies oft nach einem westlich tradierten Muster.
So geht der südafrikanische Theaterwissenschaftler Samuel Ravengai der Dominanz abendländischer Theaterkonzepte gegenüber außereuropäischen Performancetraditionen auf den Grund. In The Dilemma of the African Body as a Site of Performance in the Context of Western Training (2011) argumentiert er, dass westliche Schauspielmethoden Körpervorstellungen und performative Praktiken bestimmter afrikanischer Traditionen nicht fassen können:
My hypothesis is that the psycho-technique is a culture-specific system that arose to deal with the heavy realism of Ibsen, Chekhov, Strindberg, Odets and others. I believe that there is a Western realism, which can be differentiated from an African realism. […] Consequently the psycho-technique tends to favour a Western-groomed body and seems to disorientate any other differently embodied body.7
Ravengai kritisiert, dass selbst afrikanische Schauspielschulen – wie etwa zimbabwische – ausschließlich eine auf Stanislavskys Methoden gründende Spieltechnik lehren, die viele Ausdrucksebenen der Absolvent_innen ausblendet oder gar negiert. Nach dieser Lesart weist bereits eine Grundkomponente transkultureller Theaterarbeit – die Darstellungs- und Spieltechniken – aufgrund der Dominanz westlicher Methoden eine Schlagseite auf.
Schließlich erläutert Helen Nicholson in ihrem Buch Applied Drama: The Gift of Theatre (2005), dass Zielsetzungen im Bereich der transkulturell ausgerichteten Projekte des Applied Theatre wie beispielsweise Freiheit und Autonomie des Subjekts vornehmlich auf Vorstellungen des europäischen Theaters des 18. und 19. Jahrhunderts rekurrieren. So argumentiert sie, dass sich Augusto Boals Konzept des „Theatre of the Oppressed“, welches seit Jahrzehnten in trans- und interkultureller Praxis eingesetzt wird, primär auf Konzepte der Aufklärung bezieht:
Boal imbues his spect-actors with special qualities of creativity, autonomy, freedom and self-knowledge, and although his language and terminology is often Marxist in tone, it is on this idealist and Enlightenment construction of human nature that Boal depends for his vision of social change.8
„Autonomy“ ebenso wie die „Enlightenment construction of human nature“ sind Grundfesten des europäischen Theaters seit der Aufklärung und zweifelsohne beeinträchtigen sie, sobald sie als Prämisse von Theaterarbeit gesetzt sind, andere performative und gesellschaftliche Konzepte. Nicholsons Argumentation folgend, wird bereits durch eine solche ästhetisch-philosophische „Vision“ eine gesellschaftspolitische Richtung der Theaterprojekte vorgegeben, die dem europäisch-abendländischen Wertekanon entspricht bzw. vornehmlich auf diesen rekurriert. Mit Rückblick auf ihre eigenen Erfahrungen in der transkulturellen Applied-Theatre-Arbeit kritisiert sie insbesondere die fehlende Reflexion der westlichen Dominanz innerhalb des kreativen und ästhetischen Austauschs, welche regionale Kontexte oftmals über- bzw. ausblendet:
This suggests that an uncritical reading of Boal’s theories of creative exchange has the potential to obscure the significance of context to applied drama. It is left to those who use his techniques, therefore, to consider how the creative dialogue enabled by TO (Theatre of the Oppressed) strategies might illuminate different situations. Practitioners with a range of political perspective apply Boal’s methods to many different situations and problems, and this means that developing a coherent and creative praxis involves recognising that all dramatic dialogues are not only contextually and contently located but also variously politically situated.9
Auf der anderen Seite kann argumentiert werden, dass Theaterprojekte an transkulturellen Schnittstellen womöglich deshalb Konzepte der westlichen Agenda favorisieren, weil diese, insbesondere seit postdramatische Formen am Theater dominieren, eine Vielfalt an Ausdrucksmöglichkeiten und ein Verständnis von Ästhetik bereitstellen, welche sich für die Verhandlung diverser kultureller Traditionen und der Generierung neuer Formen besonders eignen.
Post-Hegel: Das transkulturelle Potential des postdramatischen Theaters
Hans-Thies Lehmann deutet in der Betonung der Formenvielfalt des postdramatischen Theaters auf das ungeheure Potential von Theater hin, sich Neuerungen – wie etwa der zunehmenden kulturellen Vielfalt – zu stellen. Bei genauerer Lektüre seines weltweit rezipierten Werkes Postdramatisches Theater wird ersichtlich, dass erste Ansätze über die weitreichenden Möglichkeiten schon in Hegels Vorlesungen über die Ästhetik zu finden sind, obwohl dessen Theorie wiederum auch als Beispiel par excellence für den abendländisch-kolonialen Gestus einer idealistischen Ästhetik stehen kann, die andere Kulturen degradiert.1 Hegels rassistische Bemerkungen zu afrikanischen Kulturen sind bekannt,2 sein Wirken sollte sicherlich einer intensiven postkolonialen Kritik unterzogen werden, doch hält es ebenso fruchtbare Überlegungen für die transkulturelle Wirkungsmacht von Kunst bereit. Lehmann macht ebenfalls eine Ambivalenz in Hegels Werk aus, die hinsichtlich der Frage, inwieweit Hegels Überlegungen zur Ästhetik ein transkulturelles Potential in sich birgt, weiterführend sein kann. Diese äußert sich in der anfangs von Hegel favorisierten, nahezu apodiktisch erscheinenden, doch in den Vorlesungen zunehmend brüchiger werdenden Grundannahme, dass die Gesamtidee einer Gesellschaft sich in der Kunst widerspiegelt, so Lehmann:
Die klassische idealistische Ästhetik verfügte über das Konzept der „Idee“: Entwurf eines begrifflichen Ganzen, das die Details konkretisieren (zusammenwachsen) lässt, indem diese sich, zugleich in der „Realität“ und im „Begriff“, entfalten. Jede historische Phase einer Kunst konnte so von Hegel als konkrete und spezifische Entfaltung der Idee von Kunst betrachtet werden, jedes Kunstwerk als besondere Konkretisation des objektiven Geistes einer Epoche oder „Kunstform“. […] Wenn das Vertrauen in derartige Konstruktionen – etwa des Theaters, von dem dann das Theater einer Epoche eine spezifische Ausfaltung wäre – schwand, so zwingt der Pluralismus der Phänomene dazu, das Unvorhersehbare und „Plötzliche“ der Erfindung, den unableitbaren Moment der Intervention anzuerkennen.3
Nach dieser Argumentation wird in Hegels These des Endes der Kunst das Konzept des ausgestalteten Entwurfs der Idee ad acta gelegt. Das Theater tendiert nach Hegels Auffassung allerdings schon seit der Antike dazu, die Vorstellung des Kunstschönen, und damit das „sinnliche Scheinen der Idee“ in der Kunst zu stören:
Wenn Hegel das Kunstschöne als eine vielschichtige „Versöhnung“ der Gegensätze, insbesondere des Schönen und des Sittlichen versteht, so kann man in der Tat behaupten, dass unter dem Begriff des „Dramatischen“ Hegel jene Züge am Ästhetischen zur Geltung bringt, die den Anspruch auf Versöhnung scheitern lassen.4
Lehmann sieht in Hegels Dramenverständnis also bereits postdramatische Züge aufflackern. Er bezieht sich dabei auf die Überlegungen von Christoph Menke, der wenige Jahre zuvor – Mitte der 1990er Jahre – in Die Tragödie im Sittlichen feststellt: „Das Drama ist bei Hegel, auch schon in seiner griechischen Gestalt, auf dem Weg zu einer nicht mehr schönen Kunst. Im Drama beginnt das Ende der Kunst, in der Kunst.“5 Die Besonderheit des Theaters in der Hegelschen Kunstgeschichte und die damit einsetzende Befreiung der Kunst aus den Fesseln des Kunstschönen verdeutlicht sich in der „doppeldeutigen“ Rolle der Schauspieler_innen, einerseits hinter der Maske „nur“ eine vorgegebene Rolle zu spielen und gleichzeitig zu beanspruchen, ein Individuum zu sein, das selbst entscheidet, diese Maske zu tragen: „Die Schauspieler spalten sich von sich als sittlicher Charakter, als Mitglied des Gemeinwesens, und depotenzieren ihn zu einer Maske, durch die nicht sie bestimmt sind, sondern die an- und abzulegen sie, als ‚wirkliche Subjekte‘, die Macht und Freiheit haben.“6 Hegel gesteht so dem Ästhetischen im Theater eine äußerst bedeutsame Rolle für die Darstellung von Vielfalt jenseits der