explodierte Helmut Palmer regelmäßig, wenn er sich auch nur im Geringsten ungerecht behandelt fühlte. Dann beleidigte er sein Gegenüber häufig als „Nazi“ und konnte auch handgreiflich werden. Meist waren es Beamte, deren daraufhin erfolgte Strafanzeigen zur Eröffnung eines Gerichtsverfahrens führten. […] Ein jahrzehntelanger Kampf eines Unbeugsamen gegen das bundesrepublikanische Rechtswesen war die Folge. […] Palmer führte mindestens 70 Strafprozesse. Er verbrachte zusammengerechnet mindestens 423 Tage seines Lebens in verschiedenen Justizvollzugsanstalten,5
darunter auch Stuttgart-Stammheim. Palmer-Prozesse waren Spektakel. Bei Verhandlungen erschien er im Richtertalar mit aufgenähtem Hakenkreuz oder in gestreifter Häftlingskleidung. Umgekehrt führte er 289 Wahlkämpfe, in denen er sich an Bürgermeister- und Oberbürgermeisterwahlen beteiligte. Einmal, in Schwäbisch Hall 1974, so Palmer im Original, „hätt es beinah gereicht. Dort bekam ich im ersten Wahlgang über 40 %, nur die Verschwörung der Presse und aller Parteien, die Feigheit der Bürger hat meinen Sieg verhindert.“6
Warum bringt man so einen auf die Bühne? Zur Identifikation lädt er nicht ein. Palmer ist kein edler Rebell, kein Robin Hood, in den man sich verlieben könnte oder der einem als politisches Vorbild taugt. Er ist auch kein tragischer Held, groß im Untergang. Er kämpft gegen alles und jeden, hat Recht und Unrecht. Er blickt voll durch und leidet unter paranoider Verkennung der Lage. Palmer zieht uns an und stößt uns ab. Er ist uns zugleich fern und nah, bekannt und fremd. Er ist ein Teil unserer Geschichte, der Nachkriegsgeschichte eines Jungen in Westdeutschland, im Schwäbischen. Und er ist ein singuläres Exempel für die Beunruhigung durch einen Fremdkörper der Gemeinschaft, für die Unruhe, die von diesem Fremdkörper ausgeht, für die Unruhe, die uns erfasst, wenn wir ihm begegnen.
Wie verläuft diese Begegnung mit Palmer im Landestheater Tübingen? Palmer wird dort nicht von einem_r Schauspieler_in verkörpert, er ist eine Puppe aus Schaumstoff und Gummi, etwa 1,20m groß, die von einem oder zwei Schauspieler_innen geführt wird. Die Schauspieler_innen, eine Frau und drei Männer, führen die Puppen durch einen Schlitz im Rücken und an den Armen. Sie sind immer sichtbar, stehen hinter und neben den Körperteilen der Puppen. Zugleich sprechen sie die Texte von Palmer, seine Reden, Anklagen und Rechtfertigungen – und sie singen, denn Palmer ist auch eine Art Musical. Es gibt auch nicht nur den einen Palmer, sondern eine ganze Reihe von Palmer-Puppen, die sich doublieren, wechselseitig kommentieren, zum Chor finden oder mit wenigen Handgriffen am Kostüm in Palmers Ehefrau oder einen Richter verwandeln können.
Was für eine Art von Puppentheater sehen wir hier? Palmer ist ganz offensichtlich vom japanischen Puppentheater Bunraku inspiriert. Roland Barthes hat die Einzigartigkeit dieses Theaters beschrieben und in Bezug gesetzt zur westlichen Schauspielkunst. Während hier die Sprache, Emotion und Geste in einem Körper vereint und synchronisiert sind, so dass der Eindruck einer in sich geschlossenen, souveränen Gestalt entsteht, ist im Bunraku die Stimme des Erzählers, der am Rande der Bühne sitzt, getrennt vom emotionalen Ausdruck der Puppen und der wiederum getrennt von den Körpern und Gesten der drei sichtbaren Puppenführer_innen. Unterbrechung der Synchronisation von Sprechen, Fühlen und Tun in einer Person ist das Kennzeichen des Bunraku. Die drei getrennten Elemente des Ausdrucks werden so gestisch und jeweils für sich mit einer leuchtenden Intensität vorangetrieben. Die Wirkung ist die einer starken emotionalen Ergriffenheit verbunden mit dem Gefühl einer ständigen Versetzung unserer Sinne, eines Nichtbeisich-, sondern Außersichsein. Diese Wirkung wird noch verstärkt durch eine zweite Unterbrechung: die lebendige Aktion der Schauspieler_innen wird durch die toten Körper der Puppen unterbrochen. Fortan changiert die Aufmerksamkeit zwischen dem Belebten und Unbelebten. Dabei zielt das Bunraku anders als in der westlichen Schauspielkunst seit dem 18. Jahrhundert und in manchen Konzepten des Puppentheaters nicht auf Verlebendigung und Wiederbelebung des Abwesenden und Toten, der Figur der Rolle oder des toten Puppenkörpers ab. Im Unterschied zu diesem im Grunde religiösen Konzept, das die Unversehrtheit und Dauer des Individuums garantieren soll, lässt uns das Bunraku das Tote, das Objekthafte im Eigenen erfahren, das uns an unsere Sterblichkeit gemahnt, an jene fundamentale Fremdheit, die aus dem Leben auszuschließen vergebens ist.
Es ist diese Fremdheit, die uns nicht nur im Bunraku, sondern auch in seiner freien Adaption durch die Akteur_innen, die Puppen und Schauspieler_innen, der Tübinger Palmer-Aufführung begegnet. Es ist, bei allem Spaß, den wir bei dieser Aufführung haben, das immer wieder aufblitzende Double von Lebendigem und Totem, das Gesicht des_r Schauspieler_in neben dem Puppengesicht, das uns berührt. Wir fühlen uns hin- und hergerissen zwischen dem Bedürfnis, Abstand zu halten zu diesen unheimlichen Doppelgänger_innen unserer selbst und Wiedergänger_innen der Toten und dem Wunsch, die kleinen Wesen aus totem Stoff, gleich den Spieler_innen, die sie begleiten, zu berühren. In dieser doppelten Berührung, die uns trifft, strahlt das Theater im Glanz eines Lebens unter Fremden.
Post-Hegel, postdramatisch, transkulturell?
Überlegungen zu einer Ästhetik der Entähnlichung1
Julius Heinicke (Hochschule Coburg)
Theaterarbeit hat ein hohes transkulturelles Potential: Da sie nonverbale Kommunikation ermöglicht und jegliche Kulturen auf ein performatives Repertoire zurückgreifen können, stellt sie beispielsweise für das Aufeinandertreffen von Menschen mit verschiedenen Kulturgeschichten jede Menge Formate der Verständigung und Aushandlung von Angesicht zu Angesicht bereit. Die transkulturelle Wirkungsmacht von Theater erscheint für die globalen Gesellschaften unserer Zeit zukunftsweisend, allerdings dominieren auf diesem Feld – so die postkoloniale Kritik – meist Praktiken und Methoden einer vornehmlich westlich ausgerichteten Agenda.
Postkoloniale Kritik des inter-, multi- und transkulturellen Theaters
Theaterwissenschaftler_innen wie Rustom Bharucha,1 Osita Okagbue2 und Helen Nicholson3 argumentieren seit den 1990ern, wie in jenen Zeiten zunächst interkulturell angedachte Projekte, die von abendländischen Theatermacher_innen initiiert, gesteuert und gestaltet werden, die Performancetraditionen ihrer beispielsweise indischen und afrikanischen Kooperationspartner_innen beschneiden, indem sie diese aus dem gesellschaftlichen Kontext reißen, in ein westliches Konstrukt zwängen oder deren komplexe kulturelle Verweise ignorieren bzw. nicht entziffern können. Neben diesen Herausforderungen auf der Produktionsebene formulieren Kulturwissenschaftler_innen wie Birgit Mandel4 und Wolfgang Schneider5 ebenso Missstände hinsichtlich des Erreichens unterschiedlicher Gruppen von Rezipient_innen. Viele kulturelle Gruppierungen bleiben trotz trans-, inter- und multikultureller Ausrichtung den hiesigen Theateraufführungen fern.
Trotz derlei Herausforderungen werden Konzepte von Inter-, Multi- und Transkulturalität in den letzten Jahren breit rezipiert und finden in der Theaterpraxis allerlei Anwendung. Während Interkulturalität die Kommunikation und Verhandlung zwischen den Kulturen betont, baut – grob formuliert – transkulturelles Theater auf den Austausch kultureller Traditionen unter der Maßgabe, etwas „Neues“ zu schaffen, so Wolfgang Sting:
Interkulturelles Theater bewegt sich also zwischen Exotismus (Bestaunen des Fremden), Internationalität (multikulturelles,