Auch die Konzepte von kultureller Identität und Integration sind dem interkulturalistischen Weltbild entsprungen. Die Vorstellung kultureller Identität ist obsolet in Zeiten kultureller Hybridisierung. Hält man (verzweifelt) daran fest, z.B. mit einem Merkzettel (Leitkultur) all dessen, was angeblich deutsch ist, betreibt man, absichtlich oder unabsichtlich, das Geschäft der Fundamentalist_innen. Die Zuschreibung kultureller Identität bindet Menschen fest an einzelne kulturelle Normen und Praktiken, seien sie real oder imaginär. Von hier aus lässt sich ihre Exklusion betreiben, wie es im euphemistisch genannten „Ethnopluralismus“ der extremen Rechten geschieht. Selbst die gutgemeinte Idee der Integration erweist sich im Horizont des Interkulturalismus als Einbahnstraße: Integrieren müssen sich demzufolge nur die, die von außen kommen. Sie sollen sich in die kulturelle Lebenswelt einfügen, in die sie eintreten. Wenn das Wahlprogramm der AfD für die Bundestagswahl 2017 das Wort „Integration“ durch „Anpassung“ ersetzt, bringt es unfreiwillig die Einseitigkeit in der gängigen Vorstellung von Integration zum Ausdruck. In der Migrationsgesellschaft, die wir sind, wäre die Forderung, sich zu integrieren – will man an dem Begriff festhalten – die Aufgabe aller, die hier leben, in gleichem Maße.
Das transkulturelle Theater ist ein entscheidendes Medium der Hinwendung zum Fremden. Als „Schauplatz des Fremden“4 hat Bernhard Waldenfels das Theater bezeichnet und die Fremdheit des Theaters gleich bei seinen westlichen Anfängen im Theater der antiken Tragödie beginnen lassen. Für die Moderne hat Brecht, der „Einstein der neuen dramatischen Form“5, nicht von ungefähr die Erfahrung des Fremden als eine Hauptaufgabe von Theater benannt. Brechts oft nur verkürzt wahrgenommenes Konzept der Verfremdung versteht Fremdheitserfahrung als ein Fremdwerden der Erfahrung selbst. „[V]on sich selber entfernen“6 und sich fremd werden sollen sich nach Brecht die Zuschauer_innen ebenso wie die Akteur_innen: „[Der Artist betrachtet] sich selbst und seine Darbietungen mit Fremdheit […]“7. Theater, folgen wir Waldenfels und Brecht, ist sich selbst fremd, es ist prinzipiell „außer sich“.8 Das macht es zu einem bevorzugten Ort der Verständigung unter Fremden und Medium transkultureller Kommunikation.
Ein transkulturelles Theater geht nicht von abgeschlossenen, distinkten Kulturen aus, die es miteinander in Kontakt zu bringen sucht, sondern setzt an der Fremdheitserfahrung im Inneren der vermeintlich eigenen, der sogenannten Nationalkultur an. Denn Nationalkulturen sind allesamt Phantasmen, Wunsch- und Trugbilder der Reinheit, des Eigenen und des Wesenhaften. In der Realität aber nie rein, sondern durchsetzt vom Unreinen, andern Völkern und Ethnien, Sitten und Gebräuchen, kulturellen Einflüssen, Transformationen usf. Durchsetzt also von Fremdkörpern, die ausgeschlossen werden müssen, weil sich erst im Ausschluss des Fremden das Phantasma einer eigenen Kultur gründen lässt. Eben um das Durchsetzte aber geht es im Theater des Fremden. Das hindurchgehende Fremde im vermeintlich Eigenen der Kultur, dieses Trans, das das sicher geglaubte Eigene durchquert und öffnet, ist der Beweggrund des transkulturellen Theaters.
Das transkulturelle Theater sucht also das Fremde nicht in weiten Fernen, sondern zuallererst innerhalb des vermeintlich Eigenen und Nahen, das es in ein unvertrautes Licht rückt. Erst wenn die Grenze zwischen dem Eigenen und dem Fremden in Frage gestellt ist und das Eigene selbst fremd geworden ist, wird ein freier Umgang mit Fremdheit, der eigenen wie der des Anderen, möglich. Dieser Umgang zielt auf einen „versöhnten Zustand“, den Adorno, in Anlehnung an Eichendorffs gleichnamiges Gedicht, als „schöne Fremde“ bezeichnet hat. Er „annektierte nicht mit philosophischem Imperialismus das Fremde, sondern hätte sein Glück daran, dass es in der gewährten Nähe das Ferne und Verschiedene bleibt, jenseits des Heterogenen wie des Eigenen.“9 Als Raum eines Fernen und Verschiedenen, so nah es auch sein mag, begreift Adorno den versöhnten Zustand zwischen dem Eigenen und dem Fremden. Es ist der Erfahrungsraum des transkulturellen Theaters, ein Zwischenraum, ein Transitraum zwischen Eigenem und Fremdem.
Weil aber dieser Transitraum ein Erfahrungsraum ist, lässt sich das Fremde nicht repräsentieren, so dass man mit dem Finger darauf deuten kann. Fremd sind nicht die Flüchtlinge, die Migrant_innen und Postmigrant_innen. Werden sie als die Fremden angesehen, werden sie zu Exot_innen gemacht. Wo auch immer das Theater sich auf die Suche nach dem Fremden macht, entscheidend ist, dass es das Fremde nicht exotisiert. Dass es sich nicht anmaßt, stellvertretend für die anderen zu sprechen und nicht zurückfällt in Dramaturgien der Entgegensetzung, die das obsolete Freund-Feind-Schema politischen Handelns wiederkehren lässt, auch nicht im Kampf für die vermeintlich gute Sache. Das Fremde ist kein Gegenstand, der_ie Fremde kein Subjekt. Das Fremde ist eine Erfahrung, die uns widerfährt. Sie verfremdet unsere Wahrnehmung des Fremden dahingehend, dass uns die eigene Wahrnehmung fremd wird. Fremdheitserfahrung ist die Erfahrung einer Fremdheit im Eigenen. Theater kann, Theater soll diese Erfahrung ermöglichen. Erst von dieser Erfahrung aus wird transkulturelle Kommunikation möglich. Ein Theater der Fremde und der Fremden ist deshalb nicht allein von und für die Fremden von außerhalb, sondern für die Fremden, die wir sind. Es ist ein Theater unter Fremden.
2. Ein Theater der Wiederholung
Von zentraler Bedeutung für die Praxis des transkulturellen Theaters ist der Umgang mit Geschichte. Denn auf Geschichte berufen sich die Propagandist_innen von Fundamentalismus und Restauration in ihrem Kampf gegen die Globalisierung zuallererst. Ursprung, Kontinuität, Dauer. Darin besteht die historische Legitimation von allen Bewegungen und Institutionen, die sich der Globalisierung wie der Möglichkeit der Weltwerdung gleichermaßen widersetzen und zurück wollen in eine goldene Zeit, die es nie gegeben hat.1 Geschichte als legitimatorischer Überbau von Fundamentalismus und Restauration steht dem Werden des transkulturellen Theaters im Weg. Zugleich fungieren die sperrigen Geschichtskonstruktionen als Materialdepots transkultureller Theaterpraxis. Die Abbrucharbeiten an ihren Gebäuden erschöpfen sich nicht in der Destruktion. Das transkulturelle Theater ist selbst angewiesen auf das semantische Potential von Geschichte und die Zeitform der Historizität, die es in den Bruchstücken und Überresten der für die Ewigkeit entworfenen Geschichtsgebäude findet. Im Siegeszug der Globalisierung, die alle Regionen und Länder erfasst, stellt Geschichte ein wichtiges Differenzkriterium dar. Es ist gegenwärtig nämlich nicht gegeben, dass das Fremde auch in der „Nähe das Ferne und Verschiedene“2 bleibt, wie es Adorno vorschwebte. Mit der Globalisierung und Digitalisierung der Welt geht eine Universalisierung und Homogenisierung der Lebensweisen einher. Arbeit, Kommunikationsformen und Konsumverhalten gleichen sich allerorten mehr und mehr an. Sie werden am Ende unterschiedslos wie die Shopping Malls, die über Kontinente hinweg von denselben Konzernnamen künden. Gegen die Gleichmacherei der Globalisierung wirkt das Antidot von Geschichte. Es sind unsere Geschichten, die unseres Landes und unserer Region ebenso wie die privaten Lebensgeschichten, die uns voneinander unterscheiden. Geschichte macht die Unterschiede, die transkulturelles Zusammenleben von Fremden braucht. Aus den Bruchstücken und Trümmern der fundamentalistischen Geschichte generiert das transkulturelle Theater Sinn und Differenz im Prozess der Weltwerdung.
Die konkurrierenden Vorstellungen von Geschichte unterscheiden sich im Hinblick auf den ontologischen Status und einen Ursprung, den sie Geschichte beimessen oder verweigern. Daraus ergeben sich Konsequenzen für die Konstruktion kultureller Eigenheit. Wird Geschichte ontologische Existenz zugesprochen und sie in einem Ursprung verankert, lässt sich daraus das So-und-nicht-anders kultureller Eigenheit ableiten. Das Konzept einer Ursprungsgeschichte manifestiert sich in der Konstruktion von Nationalkulturen. Es artikuliert sich in kulturellen Praktiken, die den Status quo abgeschlossener Kulturen beschwören und deren Öffnung nach Innen und Außen verhindern. Transkulturelle Theaterpraxis kann diese Vorstellung und Praxis von Geschichte nicht als obsolet beiseite stellen, sondern muss ansetzen an ihnen, um sie abzuarbeiten, auszuhöhlen und aus ihren Bruchstücken das Potential für eine Geschichte zu gewinnen, die die Grenzen jeder vermeintlich eigenen Kultur überschreitet.
Entscheidend für die Stellung zur Geschichte im transkulturellen Theater ist die Figur der