Geschichte im Theater der Wiederholung versteht sich nicht länger als Ursprungserzählung und unbefragte Tradition einer Nation sondern als Genealogie im Sinne Foucaults. „Die Genealogie“, so Foucault,
geht nicht in die Vergangenheit zurück, um eine große Kontinuität jenseits der Zerstreuung des Vergessenen zu errichten. Sie soll nicht zeigen, dass die Vergangenheit noch da ist, daß sie in der Gegenwart noch lebt und sie insgeheim belebt […] [V]ielmehr [will sie] das festhalten, was sich in ihrer Zerstreuung ereignet hat: die Zwischenfälle, die winzigen Abweichungen oder auch die totalen Umschwünge, die Irrtümer, […] die das entstehen ließen, was existiert und für uns Wert hat. […] Die genealogisch aufgefasste Historie will nicht die Wurzeln unserer Identität wiederfinden, vielmehr möchte sie in alle Winde zerstreuen; sie will nicht den heimatlichen Herd ausfindig machen, von dem wir kommen, jenes erste Vaterland, in das wir den Versprechungen der Metaphysiker zufolge zurückkehren werden; vielmehr möchte sie alle Diskontinuitäten sichtbar machen, die uns durchkreuzen.3
In der genealogischen Geschichtsschreibung ist Geschichte dem Ursprung entsprungen und der Tradition entrissen: Sie ist diskontinuierlich, kontingent und singulär. Und sie zeigt sich als Theater. Der Historiker muss, mit Foucault gesprochen, die „Wiederkunft ehemaliger Ereignisse erfassen, […] und die verschiedenen Szenen wieder[…]finden, auf welchen die Ereignisse verschiedene Rollen gespielt haben“4 und spielen. Hier zeichnet sich über die metaphorische Verwendung hinausgehend die Idee eines Theaters der Geschichte ab. Sie knüpft an die Vorstellung vom Schauspiel der Geschichte an, die sich mit der Französischen Revolution verbreitet, an die Ausstellung der Römerposen und -kostüme in Büchners Drama Dantons Tod,5 an Marx’ Analyse des Theaters der Revolution als tragische und farcehafte Wiederholung von Geschichte, und an Nietzsches Totalisierung der Theatermetapher der Geschichte.6 Nicht zuletzt bezieht sie sich auf Kierkegaard und seine Prognose, dass das Phänomen der Wiederholung künftig „eine sehr wichtige Rolle in der neueren Philosophie spielen“7 wird und auf Gilles Deleuzes Analyse des wechselseitigen Bedingungszusammenhangs von Geschichte, Wiederholung und Theatralität. Geschichte kann demnach als Theater der Wiederholung verstanden werden, die theatrale Aktion ist ein Akt der Wiederholung, die Wiederholung ist ein Vorgang der Theatralität. Das Theater der Wiederholung meint nicht die theatrale Darstellung von Akten der Wiederholung, die dem Theater vorausgehen, sondern dass die Wiederholung selbst ein theatraler Akt ist. Das ermöglicht ihr, die Macht der Gespenster von Fundamentalismus, nationaler Kultur, Ursprungsgeschichte und Restauration zu brechen und sie ins Spiel zu bringen.
3. Ein Theater der Geste
Das Agens des transkulturellen Theaters ist die Geste. Ursprungslos wie das transkulturelle Theater ist, lässt sich seine Potentialität nicht mit den Begriffen der aktiven Handlung und des Handelns fassen. Denn Handeln impliziert die Intentionalität und Finalität eines Tuns im Ganzen einer Handlung, die bereits nach Aristoteles Anfang, Mitte und Schluss hat.1 Die Vorstellung handlungsmächtiger Subjekte, die souverän über ihr Tun verfügen, ist obsolet, vollends in Zeiten der Globalisierung. Gesten aber sind Aktionsformen, die dem transkulturellen Theater gemäß sind. Denn sie entstehen aus Praktiken der Unterbrechung und Teilung, die das Aktionsfeld, die Form der Bewegung, die Raum-Zeit-Dynamik und das Affektpotential des Handelns im transkulturellen Theater gleichermaßen bestimmen. „Gesten erhalten wir umso mehr, je häufiger wir einen Handelnden unterbrechen“2, so lautet Walter Benjamins berühmte Beschreibung der Geste im Epischen Theater Brechts. Von Benjamins und Brechts Konzept der Geste ausgehend soll hier die Unterbrechung zum Ausgangspunkt der Ausführungen zum gestischen Handeln im transkulturellen Theater gemacht werden. Zwei Charakteristika der Geste fallen dabei ins Auge: Die raumzeitliche Migration der Geste und ihre affektive Kraft.
Gesten bewegen sich zwischen Zeiten und Räumen. Auf diese raumzeitliche Dynamik der Geste haben Walter Benjamin und im Anschluss an ihn Samuel Weber aufmerksam gemacht. Gesten zeichnen sich Benjamin zufolge dadurch aus, dass sie sowohl fixiert als auch zitiert werden können. Als fixierbare schneidet die Geste eine singuläre körperliche Bewegung aus dem Kontinuum der Zeit heraus. Als zitierbare unterbricht die fixierte Geste sich selbst. Sie weist damit – so hat Weber es beschrieben – „zugleich rückwärts in die Vergangenheit und vorwärts in die Zukunft. Die Fixierbarkeit der Geste wird durch ihre Zitierbarkeit […] aufgebrochen.“ 3 Es ist ein Aufbruch, der sie in fremde Landstriche und Umgebungen entführt. Die Geste ist, mit aller Vorsicht gesprochen, der Migrant par excellence.4 Unterwegs in der Fremde stellen Gesten Kontakt her zwischen Zeiten und Räumen. Herausgebrochen aus dem Handlungszusammenhang, dem sie entstammen, tragen Gesten doch die Überreste und Spuren des Vergangenen an sich, die sie zitierend an- und vorführen. Das heißt aber auch: Gesten lassen sich nicht beliebig de- und rekontextualisieren. Sie sind stets mit Geschichte aufgeladen. Geschichte haftet an ihnen, Geschichte umgibt sie im Aggregatzustand des Nachlebens.5 Geschichte kehrt in Gesten wieder, wiederholt und vervielfältigt sich in Form des Gespenstischen und der unwillkürlichen Erinnerungssplitter. In einem eigentümlichen Verhältnis von Kontinuität und Diskontinuität verbindet die Geste so die eigene, fremd gewordene Vergangenheit mit der ungewissen Zukunft am fremden Ort. Deshalb ist die Geste ein paradigmatisches Medium transkultureller Kommunikation. Gestische Kommunikation ist die von Fremden, die die Bindung an eine kulturelle Tradition und Gemeinschaft aufgegeben haben. Zugleich unterscheiden sie sich aber voneinander durch die unterschiedlichen Spuren der Vergangenheit, die sie gestisch zitieren. Gesten sind aufgegebene Geschichte. Sie sind offen und anschlussfähig für neue Geschichte(n) in der Konstellation mit anderen Räumen und Zeiten. Und: Gestische Kommunikation ist nach Brecht ein Vorgang der Theatralität. Denn die Zitierung des Singulären setzt das Fixierte in Bewegung und versetzt es in einen virtuellen Raum des Sekundären und Uneigentlichen, einen Raum der Wiederholung mit vielerlei Kostümierungen und Maskeraden, einen Zeit-Spiel-Raum.6
Eine besondere affektive Kraft kommt der Geste paradoxerweise durch die Exposition ihrer Unvollkommenheit zu. Damit unterscheidet sie sich radikal von jenem gestischen Zeigen auf soziale Verhältnisse, das sich unterm Diktat des Grundgestus der Szene in den fünfziger Jahren in Brechts Theaterpraxis eingebürgert hat. Die Geste, die perfekt und Bescheid wissend auf etwas zeigt, verbirgt die unvollkommene, sich selbst nicht einsichtige Geste des Zeigenden, der nicht länger souverän über sein Handeln verfügt. Die Geste, die der Unterbrechung entspringt, sieht sich um ihre Intentionalität und ihre Finalität und damit um die Souveränität des Handelns gebracht. Das schreibt ihr die Züge des Unvollendeten und Mangelhaften ein. Scham ist der durchschlagende Affekt, der mit deren Enthüllung einhergeht. In der Scham sieht sich der Beschämte entblößt den Blicken der anderen ausgesetzt. Die schamvolle Aussetzung ist das Double jener Aussetzung, die als Unterbrechung bezeichnet wird.7 Scham ist der Affekt der im doppelten Sinn ausgesetzten Geste. Ohne Scham, d.h. ohne schamvolles Bedecken und Verbergen des menschlichen Makels,8 bietet sie sich dem Fremden dar, entblößt und offen für die Berührung.9 In der Geste der Scham transformiert sich das Ent-Setzen der Aussetzung in eine affektive Kraft, uns zu berühren. Die Geste der Scham ist auch die Geste der Berührung des Fremden.10
4. Ein Fremdkörper der Gemeinschaft im transkulturellen Theater
Das Beispiel einer Aufführung mag eine Ahnung vom Erfahrungsgrund der Idee des transkulturellen Theaters in der Theaterpraxis geben, ohne dass sich Idee und Praxis 1:1 spiegelten. Es handelt sich um das Stück Palmer – zur Liebe verdammt fürs Schwabenland,1 das 2015 am Landestheater Tübingen aufgeführt wurde.
Es geht darin von Helmut Palmer, eine prominente Figur aus dem schwäbischen