Postdramatisches Theater als transkulturelles Theater. Группа авторов. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Группа авторов
Издательство: Bookwire
Серия: Forum Modernes Theater
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783823301592
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nicht zugemutet werden, „Postdramen“ geschrieben zu haben. Angebrachter wäre es, von Schreibweisen zu reden, die einzelne Elemente des Dramas ebenso reaktivieren können wie etwa Montage- und Überblendungstechniken des Films, die Aufsplitterung von Figuren in heterogene Instanzen, diskontinuierliche Handlungsverläufe oder den völligen Verzicht auf Handlung, die Arbeit mit veränderten räumlichen Beziehungen zwischen Szene und Publikum, und weitere Elemente von postdramatischem Theater. Diesem elementaren Bezug zu Praktiken entsprechen eher die Begriffe Theatertext oder Stück, was ja den Vorteil hat, etwas noch Unvollständiges anzuzeigen, Raum zu geben für die immer noch und immer wieder ausstehenden Prozesse der Lektüre, der Inszenierung und nicht zuletzt der Aufführung vor und mit Publikum.

      Die Rezeption des mittlerweile in viele Sprachen übersetzten Buches Postdramatisches Theater hat aber noch ein weiteres Problem deutlich gemacht: Einerseits waren die darin diskutierten Phänomene und Begriffe wichtig für die Selbstreflexion und auch Legitimation von Theaterschaffenden verschiedenster Kulturen jenseits der bis dahin oft noch aus der Kolonialzeit andauernden Vorherrschaft des Dramas als der einzig anerkannten Form von Theater gerade auch da, wo es als Medium eines politischen Widerstands gedient hatte. Inzwischen hat sich aber gezeigt, dass auch in diesen anderen Kulturkreisen die Abgrenzung vom Drama allein noch nicht ausreicht, die Spezifik der jeweiligen Praktiken genauer zu erfassen. Jedenfalls kann gerade eine universalistische Auffassung von postdramatischem Theater den Blick versperren für die strukturellen Probleme, die Theaterarbeit derzeit in verschiedensten Kontexten erfährt. Diese haben vor allem zu tun mit dem Verhältnis von Theaterarbeit zur gesellschaftlichen Realität. So klafft eine Lücke zwischen den traditionellen Formen von ausdrücklich politischem Theater, zumal in der Verbindung der späten Stücke von Brecht mit einem realistischen Schauspielstil (z.B. in Indien oder Südamerika), und andererseits den eher indirekten Wirkungsweisen postdramatischer Formen, da diese kaum mehr auf Konfliktthemen oder Ideologien fixierbar sind. An der Debatte um die Frage „wie politisch ist das postdramatische Theater?“ hat Lehmann sich mit wichtigen Thesen beteiligt, zumal mit der Idee einer notwendigen Unterbrechung von Politik.7 Insofern aber das Politische an den von ihm beschriebenen Theaterformen weder bloß in der Entgegensetzung zum Drama, noch in der Vermittlung inhaltlicher Botschaften liegen kann, ist hier noch von einer anderen Differenz auszugehen, die mit dem Begriff der Repräsentation selber zu tun hat.

      Auch für postdramatisches Theater ist zu unterscheiden, zwischen einer eher affirmativen oder eher kritischen Haltung und Arbeitsweise, zwischen naiver und möglicherweise subversiver Affirmation, zwischen expliziten Strategien und impliziten Taktiken.8 Insofern ist aber die Kritik von Repräsentationsstrukturen keineswegs überholt. Zwar lässt sich einwenden, dass es keinen Ausweg aus dem für Theater elementaren Wechselverhältnis zwischen Präsenz und Repräsentation geben kann. Wie Jacques Derrida in seiner Lektüre der Theaterideen von Antonin Artaud gezeigt hat9 und wie auch Jean-Luc Nancy betont, gibt es kein „Außerhalb“ der Repräsentation: „keine ‚Präsentation‘, die nicht schon in der ‚Repräsentation‘ ist, das heißt keine ‚Präsenz‘, die nicht Präsenz der einen den anderen gegenüber ist“10. Gleichwohl bleibt die Analyse mehr oder weniger offenkundiger Machtverhältnisse auch für eine aktuelle Theaterpraxis wichtig, die den Verlust der großen politischen Ideologien zu reflektieren versucht, etwa das Gespenstische in der Wiederkehr des Marxismus, dessen Erbschaft die Anerkennung von Schuld und eine Kritik an den historischen Idealen nötig macht. Die Dekonstruktion des Marxismus als System und Heilslehre eröffnet, wie Derrida selbst konstatierte, zugleich die Möglichkeit eines anderen Begriffs des Politischen. Demnach ist es das „emanzipatorische Begehren“, an dem unbedingt festzuhalten sei: „Das ist die Bedingung einer Re-politisierung, vielleicht die Bedingung eines anderen Begriffs des Politischen“11. Unverzichtbar ist vielleicht mehr denn je eine Programmatik von Emanzipation, Selbstermächtigung, Self-empowerment als konkrete Aufgabe eines auf neue Weise politischen Theaters wie auch als Potential transkultureller Begegnungen, die von theatralen, szenischen und performativen Praktiken ermöglicht werden.

      2. Paradoxien der Selbstermächtigung

      Die Notwendigkeit, angesichts der gegenwärtigen Entwicklungen in allen szenischen Künsten und Praktiken zu einer weitergehenden Differenzierung auch des Sammelbegriffs „postdramatisches Theater“ zu kommen, zeigt sich insbesondere im Hinblick auf ihren jeweiligen Bezug zu gesellschaftlichen Kontexten. So stehen die vielfältigen Theaterformen, die sich in den letzten Jahrzehnten ganz neu oder weiter entwickelt haben, häufig noch quer zu den Traditionen eines explizit politischen Theaters, vermeiden eindeutige ideologische Botschaften und entziehen sich einer Instrumentalisierung für didaktische Zwecke. Dabei wird jedoch – als elementarster Aspekt von Kontextualität und gesellschaftlichem Bezug – immer wieder die Funktion und Bedeutung des Zuschauens reflektiert und bearbeitet, in komplexen Situationen der Begegnung, an unkonventionellen Spielorten und im öffentlichen Raum ebenso wie in medientechnischen Versuchsanordnungen. Die Integration des Publikums geschieht kaum mehr unvermittelt wie etwa bei den theatralen Aktivierungsformen der 1970er Jahre. Ein demgegenüber erweitertes Spektrum von Inszenierungs- und Spielweisen macht häufig Fremd- und Selbstbestimmung zugleich erfahrbar. Oft sind vermeintlich bloß Zuschauende auf mehreren Ebenen in ein szenisches Geschehen mit einbezogen, gleichzeitig in unterschiedlichen Funktionen: Mitwirkung, Teilnahme, Voyeurismus und Zeugenschaft. Umso mehr stellt sich daher die Frage, inwieweit auch gegenwärtige Theaterformen beitragen können zu einer Selbstermächtigung, zur Förderung einer selbstbestimmten Praxis.1

      Jedenfalls können Zuschauende im Theater, auch bei einer äußerlichen Passivität und Distanz emotional und gedanklich weitaus aktiver sein als bei einem wiederum spektakulären selbstmächtigen Agieren, sei es auf der Bühne oder im öffentlichen Raum. Von daher wäre zu fragen, ob weiterhin noch von einer Emanzipation des Publikums als einem politischen Ziel von Theaterarbeit zu sprechen wäre, oder vielleicht eher von längst schon emanzipierten Zuschauenden, die jedenfalls keine Bevormundung mehr brauchen? Wie aber sieht dann politisches Theater aus, wenn das Gefälle des Wissens und des kritischen Bewusstseins außer Kraft gesetzt wird? Welcher Art sind die Wahrnehmungen und Erfahrungen, die dann gemacht werden können, wenn die Spielleitung selbst aufs Spiel gesetzt und in eine Art kollektiver Produktion überführt wird? Inwieweit ist das überhaupt möglich und was wird dabei preisgegeben? Inwieweit kann ein solches Geschehen noch geplant und beeinflusst werden und welche Art von Impulsen ist dafür hilfreich?

      In seinem Buch Das Unbehagen in der Ästhetik beschreibt Jacques Rancière das gegenwärtig erfahrbare Ende der „ästhetischen Utopie“, eine Ohnmacht der Kunst im Hinblick auf die Bedingungen des gesellschaftlichen Daseins. Indem Rancière Kunst grundsätzlich als eine „Aufteilung des Sinnlichen“ definiert, etwa als Anordnung von Körpern „in einem spezifischen Raum und in einer spezifischen Zeit“, gelangt er zur Annäherung vermeintlich selbstgenügsamer, unpolitischer Kunst (die aber gerade darin das Bild von Freiheit und Souveränität als „Versprechen von Emanzipation“ bewahrt) und andererseits einer engagierten und revolutionären Kunst, die selbst schon den Widerspruch zwischen Kunst und Leben aufheben will.2 Politik ist daher in beiden Tendenzen immer schon Teil von Kunst und zumal von Theater, nicht etwa ein Äußeres oder bloß Inhaltliches, das auf der Bühne abzubilden wäre.

      Grundlegend für den Aspekt der Selbstermächtigung im oder durch Theater ist vor allem Rancières Abhandlung über den „emanzipierten Zuschauer“. In diesem 2004 auf Einladung des Kurators Mårten Spångberg entstandenen Vortrag (für eine Sommerakademie zu zeitgenössischen Theaterformen) geht Rancière von seiner früheren Studie über den „unwissenden Lehrmeister“ aus, der seine Schülerinnen und Schüler zum Selbstlernen anleiten konnte, ohne ihnen bestimmte Kenntnisse und Erklärungen systematisch zu vermitteln. Dieses Beispiel ist nun gerade für die Frage nach dem transkulturellen Potential von Theater aufschlussreich, da es um die Möglichkeit einer weitgehend eigenmächtigen Annäherung an eine fremde Sprache kreist: Inspiriert von der Entdeckung, wie schnell seine niederländischen Studierenden in Leuwen sich mit einer zweisprachigen Ausgabe von Fénelons Telemach-Roman die Logik der französischen Sprache erschließen und diese lernen konnten, entwickelte Joseph Jacotot um 1820 die revolutionäre Methode eines Unterrichts, in dem Lehren auch Emanzipieren bedeutet, in der Annahme einer Wesensgleichheit aller individuellen Intelligenz: „Die Emanzipation