Dass sich der historische Roman der Gegenwart entscheidend von seinen Vorläufern im 19. Jahrhundert abgrenzt, dokumentiert die 2007 erschienene komparatistische Untersuchung Barbara Potthasts zum historischen Roman des 19. Jahrhunderts.75 Potthast zeigt, wie in Romanen des 19. Jahrhunderts ein Geschichtsbegriff verhandelt wird, der die Fakten der Vergangenheit sowie den Auftrag des literarischen Textes, diese authentisch abzubilden, ernst nimmt. Die Gattung sei, so stellt Potthast heraus, hier noch einer unbedingten »Wirklichkeitsnähe« verpflichtet, welche sich etwa in den Romanen Wilhelm Hauffs im dort entwickelten Ideal des »treu poetische[n] Bild des Lebens« stellvertretend wiederfindet.76 Ziel der Gattung im 19. Jahrhundert ist es mit Potthast aber dennoch, Geschichte und Leben miteinander zu verbinden und zugleich eine genuine Verwandtschaft von Historiografie und Literatur zu behaupten – eine Verwandtschaft, die Potthast als Antizipation der Thesen Hayden Whites versteht.77
Mit Martin Neubauers Studie zu Geschichte und Geschichtsbewusstsein im Roman der Jahrtausendwende erscheint 2007 schließlich die bislang aktuellste Monografie zum deutschsprachigen Roman der jüngsten Gegenwart.78 Dass im Titel der Gattungsbegriff nicht auftaucht, verweist auf das gegenwärtige Unbehagen eindeutiger Kategorisierungen und vorbelasteter Genrezuschreibungen, das von den Autoren historisch-fiktionaler Texte und literaturwissenschaftlicher Positionen gleichermaßen ausgetragen wird. Neubauer seinerseits verweigert sich einer Gattungsdefinition ganz und lässt darüber hinaus die inzwischen fast kanonische Ausdifferenzierung zwischen traditionellem und ›anderem‹ historischem Roman unberücksichtigt. Gerade diese Unterscheidung hätte sich jedoch angeboten, um den mit Neubauer »trivialen historischen Roman«, den er einer »breiter rezipierten Unterhaltungsliteratur« zuordnet, von den durch Kritik und Wissenschaft gleichermaßen kanonisierten Texten abzugrenzen.79 Neubauer hingegen bezieht bewusst Beispiele aus der unterhaltenden Literatur in seine weit über dreißig Textanalysen mit ein und kommt entsprechend zu wenig homogenen Schlussfolgerungen, die Fragen der Metafiktionalität und Selbstreflexivität der Texte nur randständig behandeln.
Für die Gegenwart lässt sich mit Blick auf den historischen Roman bzw. historisch-fiktionale Texte festhalten: Dort, wo diese Texte nicht voreingenommen der Trivialliteratur zugerechnet werden, vermitteln sie das Bild einer Gattung, die gerade explizit mit dem literarischen Diskurs verknüpfte Begriffe reflektiert (Narrativität – Selbstreflexivität – Fiktionalität) und damit grundlegende Aussagen zum Literaturbegriff der Gegenwart formuliert. Zugleich ist die Frage nach dem ›historischen Gehalt‹ im Allgemeinen wie der Authentizität literarisch vermittelter historischer Ereignisse im Besonderen in den Hintergrund gerückt. Entsprechend vage müssen Definitionsansätze der Literaturwissenschaft ausfallen, wenn sie das, was einen Roman zum historischen macht, zu bestimmen suchen. Bezeichnenderweise stößt man in der unlängst erschienenen Dissertation Erik Schillings zum historischen Roman seit der Postmoderne ausgehend von Texten Umberto Ecos auf eine nur noch weit gefasste Definition, die auf eine zeitliche Grenzziehung im Sinne der Scott’schen sixty years since ganz verzichtet und solche Texte als historische Romane auffasst, »die in wenigstens einem für die Handlung fundamentalen Erzählkern auf einem historischen Ereignis, einer historischen Persönlichkeit oder einem historischen Text beruhen.«80 Das Attribut »historisch« kennzeichnet mit Schilling keine temporale Einordnung, sondern meint ein Ereignis, das »keine unmittelbaren und kollektiv wahrzunehmenden Konsequenzen mehr für die Gegenwart hat.«81 An dieser Stelle aber wird es schwierig mit dem Definitionsvorschlag Schillings, insbesondere sichtbar gemacht durch seine kurze Analyse von Ulrike Draesners Roman Spiele, einem Text über die Geiselnahme bei den Olympischen Spielen in München 1972. Draesners Roman, der 2005 erscheint, fällt einerseits mit einem reduzierten Erzählabstand zum dargestellten historischen Sujet auf, welches damit eher der Zeitgeschichte als der Historie zugerechnet würde. Zum anderen bleibt fraglich, ob Olympia ’72 tatsächlich keine unmittelbaren und kollektiv wahrzunehmenden Konsequenzen nach sich zieht – zumindest der Roman selbst, dem es gerade um die Verwebung von Mikrohistorie und Makrohistorie geht, stellt dies in Frage. Darüber hinaus bestimmt eine andauernde, sowohl individuelle wie auch kollektive Wirkungskraft ein historisches Ereignis in seiner Geschichtlichkeit: Gerade der historische Roman der Gegenwart, soviel wird noch zu zeigen sein, macht das unmittelbare Fortwirken der Vergangenheit in der Gegenwart sichtbar, indem er die zeitlichen Ebenen konsequent miteinander verschränkt. (Vgl. Kap. 6.1.2)
Schilling behauptet in seiner Studie einen Paradigmenwechsel der Gattung nach der Postmoderne, der die ausgestellte Pluralität und Multiperspektivität historischen Wissens durch die Suche nach Identität ersetze, der »offene[n] Trias von Autor, Leser und Text« mit einer prominenten Erzählerfigur begegne und das Spannungsverhältnis von Historie und Fiktion »zugunsten einer Präferenz des Fiktionalen« auflöse.82 Die vorliegende Untersuchung stimmt einer Verortung der Gattung jenseits des Postmoderne-Begriffes zu, ohne dabei die von Schilling vorgenommene Differenzierung zwischen einem postmodernen und post-postmodernen historischen Roman sowie den soeben skizzierten Befund zu teilen: Im historischen Roman der unmittelbaren Gegenwart verbinden sich, so die hier verfolgte These, identitätsstiftende Themen mit der Problematik einer ausschließlich über polyvalente Wahrnehmungsprozesse zu erfassenden Wirklichkeit. Von einer prominenten, gar glaubwürdigen Erzählinstanz kann nicht die Rede sein, ebenso wenig von einer im Zeichen des Fiktionalen gründenden endgültigen Überwindung des Hiatus zwischen Historie und Fiktion.
1.2 Epochenzäsur 1989: Zum Begriff der Gegenwartsliteratur
Unter dem Begriff der deutschsprachigen ›Gegenwartsliteratur‹ fasst die vorliegende Untersuchung historisch-fiktionale Texte, die nach 1989 erschienen sind. Zum einen legitimiert sich diese Grenzziehung durch die nach 1989 veröffentlichten und von der Geschichte erzählenden Texte selbst. Diese erlauben es, von einem anhaltenden Trend in der Gegenwartsliteratur zu sprechen, der in den 1990er Jahren und erst recht mit Beginn des 3. Jahrtausends seine Wirkungsmacht zeigt. Zum anderen ergibt sich diese zeitliche Fokussierung aus der historischen wie literaturhistorischen Bewertung der politischen Ereignisse in den Jahren 1989/90. Diese sind inzwischen nicht nur als Wendepunkt der deutschen Geschichte, sondern als eine »ganz offensichtliche Zäsur auch in der Literatur«1 erkannt worden – wenngleich als Zäsur, die kontrovers sowohl als Abgesang auf die deutsche Literatur wie als Aufbruch in ein neues literarisches Zeitalter bewertet wird.
Die Wiedervereinigung: Ringen um Identität und Versuche der Revision
Das Annus mirabilis 1989 markiert einen Epochenbruch. Der Atem der Geschichte weht durchs kollektive Bewusstsein, der frohe, aber ungläubige Ausruf »Wahnsinn!« ertönte aus aller Munde. […] 1989 ist Ausgangspunkt und Schlüsseljahr der Ausstellung, die aber keine sozialhistorische oder mentalitätsgeschichtliche Einordnung jener Jahre seit dem Ende der bipolaren Weltordnung trifft, sondern den Chiffren, Metaphern, Atmosphären und Gefühlslagen nachspürt, die mit dem Verfall eines Systems und einem politischen Umbruch verbunden sind, und die in ihrer Folgewirkung bis heute ungebrochene Aktualität besitzen.2
Die einleitenden Worte Gerald Matts, Direktor der Kunsthalle Wien, zur Ausstellung »1989. Ende der Geschichte oder Beginn der Zukunft« aus dem Jahr 2009 vergegenwärtigen programmatisch die annähernd emphatische Verkündigung eines mit der Wende von 1989/90 einhergehenden Epochenbruchs in der Kunst, hier der bildenden Kunst. Die Wiener Ausstellung ist eine von vielen, die im Anschluss an die deutsche Wiedervereinigung Auswirkungen des Zusammenbruchs des osteuropäischen Kommunismus, den Fall des ›Eisernen Vorhangs‹, auf zeitgenössische künstlerische Entwürfe untersuchen.3 Eine der zentralen Beobachtungen ist dabei jene, dass die Kunst nach 1989 Abschied von postmodernen Konzepten, insbesondere der von Lyotard postulierten Auflösung der ›großen Erzählungen‹, nimmt und mit den realgeschichtlichen Veränderungen, allen voran der deutschen Vereinigung, der Begriff einer historisch fassbaren Wirklichkeit erneut Eingang in die Kunst gefunden habe.4 Tatsächlich ist es auch im literarischen Feld gerade der Wirklichkeitsbegriff, an dem sich unmittelbar nach 1989 literaturkritische wie -wissenschaftliche Diskussionen entzünden – wie der deutsche Literaturstreit um Christa Wolfs Erzählung Was