Raimund Borgmeier und Bernhard Reitz ziehen in ihrem 1984 erschienenen Herausgeberband zum angloamerikanischen historischen Roman des 19. Jahrhunderts die »Brauchbarkeit« der von Schabert vorgeschlagenen Typologie hinsichtlich daraus resultierender Zuordnungsmöglichkeiten in Frage, obgleich sie, ihr folgend, das nachzeitige Erzählmoment ebenfalls zum Charakteristikum der Gattung erklären und diese vom Gegenwartsroman trennen.23 Tatsächlich verzichten die Autoren bewusst darauf, eine neue Typologie zu entwerfen und bestätigen damit ihre eigene einleitend aufgestellte Beobachtung: »Jedermann weiß, was ein historischer Roman ist, ihn zu definieren wird aber dadurch offensichtlich nicht leichter.«24 Vielmehr entscheiden sich Borgmeier und Reitz, die divergierenden Merkmale, denen die Gattung mit Blick auf die unterschiedlichen Zeiten, von und in denen sie erzählt, unterworfen ist, näher zu beleuchten. Mit Blick auf die in der vorliegenden Untersuchung zu diskutierenden Texte erweisen sich die Überlegungen der Anglisten als vorausschauend, wenn sie, damit bleiben sie eine Ausnahme, einerseits die Gattung und andererseits den Geschichtsbegriff in seinem diskursiven Verlauf parallelisieren und zu dem Ergebnis kommen, dass »Zweifel an den Möglichkeiten und der Bedeutung historischer Aussagen auch auf den historischen Roman übergreifen müssen«.25 Die viel zitierte literaturwissenschaftliche Kritik an der Gattung, die sich vermeintlich an der Grenze zum Trivialen bewege und die Autonomie des literarischen Textes untergrabe, wird von Borgmeier/Reitz nicht wiederholt, sondern aus Sicht der Geschichtswissenschaft neu formuliert. Deren Einwände hätten sich, so weisen die Autoren nach, lange Zeit auf ein vermeintlich vorschnell konstatiertes Verwandtschaftsverhältnis zwischen Historiografie und Literatur bezogen. Inzwischen aber lasse sich eine Entschärfung geschichtswissenschaftlicher Kritik feststellen, die Borgmeier/Reitz zu Recht mit einem veränderten Begriff der Geschichte begründen. Spätestens mit Collingwoods »bahnbrechende[r]« Studie The idea of History (1946), welche die Subjektivität des Historikers in den Vordergrund stellt und seine Arbeit als »eine vielfältig bedingte schöpferische und imaginative Leistung« bewertet, seien Literatur und Geschichte durch die Vorstellung der kreativen, beinahe poetischen Arbeit des Historiografen neu zusammengerückt. Im unübersehbaren »Status- und Prestigeverlust« der Geschichte wie der Geschichtswissenschaft, verantwortet durch die von Hayden White und seinen Nachfolgern aufgeworfene Diskussion um die Narrativität der Geschichte, erkennen die Autoren eine Chance für die Gattung des historischen Romans, da diese »als fiktionale Literatur von sich aus zu einer subjektiv gesetzten, nur relativ gültigen Darstellung der Vergangenheit« tendiere.26
Dass ungeachtet dieser frühzeitig formulierten Sensibilisierung für die metafiktionalen und selbstreferenziellen Implikationen des historischen Romans sowie der (durch Borgmeier/Reitz formulierten) Parallelisierung eines angreifbar gewordenen Geschichtsbegriffs mit literarischen Texten die germanistische Forschung immer wieder hinter eigentlich schon aufgestellte Standards zurückfällt, zeigen Studien wie die 1986 erschienene englischsprachige Untersuchung von Bruce Broermann The german historical in exile after 1933. Broermann ignoriert die Ansätze der Forschung, die Gattung nicht allein über ihre historischen Inhalte zu definieren, wenn er feststellt: »The term ›historical novel‹ refers traditionally only to content.«27 Dem Untertitel seiner Studie Calliope contra clio folgend reduziert Broermann die Forschungsdiskussion auf Versuche, die Gattung entweder der Poesie (Kalliope) oder der Historiografie (Clio) zuzuschreiben und warnt davor, den historischen Roman fälschlicherweise als Werkzeug der Geschichtsschreibung zu verstehen.28 So richtig diese Prämisse auch ist, lässt sie sich im Hinblick auf die von der angloamerikanischen Forschung bereits erarbeiteten Ergebnisse von einem überholten Gattungsbegriff leiten.
Einem eindeutigen Gattungsbegriff verweigert sich auch Richard Humphreys englischsprachige Untersuchung der historischen Romane Alexis’, Fontanes und Döblins The historical novel as philosophy of history (1986). Diese liefert anstelle einer konkreten Gattungsdefinition zunächst einen Überblick über die gesamteuropäische Gattungsgeschichte, um im Anschluss daran festzustellen:
The shortest appropriate answer to the question, ›What is an historical novel?‹ is that an historical novel is a novel which so resembles the above family of historical novels that it makes sense to describe it in those terms rather than in others.29
Eine Gattung schlicht aus der Tradition der Gattung zu erklären, erweist sich jedoch als problematisch, zumal der von Humphrey erarbeitete gattungshistorische Überblick von einer recht begrenzten Textauswahl ausgeht, die mit Blick auf andere, von Humphrey nicht berücksichtigte Gattungsvertreter in Frage gestellt werden könnte. Desweiteren vergibt Humphrey mit seiner Begriffsbestimmung die Möglichkeit, die Gattung des Romans ausgehend von aktuellen geschichtstheoretischen, -philosophischen oder auch literarischen Modellen neu zu denken.
Wie sehr die deutschsprachige Gattungstheorie hinter den Ergebnissen oben dargestellter angloamerikanistischen Untersuchungen zurückbleibt, stellt Harro Müller in seiner 1988 erschienenen Studie zum deutschsprachigen historischen Roman des 20. Jahrhunderts heraus: Darin skizziert er einleitend die »Legitimationsnöte«, denen sich der historische Roman ausgesetzt sehe, und betont das Unbehagen der Forschung angesichts einer Gattung, die einen zweifelhaften Literaturbegriff besetze:
Den Hauptvorwurf kann man vielleicht so pointieren: Der historische Roman sei eine Zwittergattung von trauriger Gestalt. Die ganze Gattung bleibe hinter dem ästhetischen Autonomie-Postulat zurück, weil sie ästhetikfernes – referentialisierbares Material benutzen muß und auf ästhetikexterne – praktische, politische – Effekte beim Leser schiele. Der historische Roman vermenge auf unselige Weise wissenschaftlichen und literarischen Diskurs, sei ein didaktisch angelegtes, auf Unterhaltungseffekte kalkulierendes Verdopplungsunternehmen zum Transport von Erkenntnissen, die im wissenschaftlichen Diskurs besser und valider vermittelt werden könnten. Das Motto dieser Gattung: Kleine Didaktik für kleine Menschen oder wie sage ich es meinem Kinde! 30
Die hier gesammelten stereotypen Vorstellungen von der Gattung verweisen auf einen deutschsprachigen Forschungskonsens, der den historischen Roman noch immer auf seine geschichtsvermittelnde Funktion, mithin auf ein Instrument der Historiografie reduziert: Das etwa von Schabert und Geppert herausgestellte Reflexionspotenzial zahlreicher früh erschienener historisch-fiktionaler Texte bleibt hier unberücksichtigt. Müller verteidigt die Gattung gegen Vorbehalte, welche die komparatistische Gattungstheorie eigentlich schon ausgeräumt hat, wenn er unterstreicht, dass es dem historischen Roman weder um ein historisches »So-ist-es-eigentlich-gewesen« noch um die schlichte Vergegenwärtigung »aktueller Erfahrungsmomente des Autors« gehe.31 Ganz richtig stellt Müller fest, dass es die literarische Qualität des historischen Romans seit 1800 gerade ausmache, auf die Kategorie der »Potenzialität« zurückgreifen zu können, Geschichte also nicht nur zu re- sondern erst zu konstruieren und den Konstruktionscharakter der Geschichte dabei durch bestimmte ästhetische Verfahren sichtbar zu machen. Geppert analog unterscheidet Müller zwischen einem »traditionellen historischen Roman«, dem es um die Darstellung historischer Einheit gehe, und einem Textmodell, in dem die Einheit der Geschichte nachhaltig gestört