Aus den Veröffentlichungen zum historischen Roman im Anschluss an das von Geppert vorgeschlagene Modell des »anderen historischen Romans« sticht Michael Limleis 1988 veröffentlichte Dissertation zum deutschen historischen Roman zwischen 1820 und 1890 hervor, da er explizite Kritik an Gepperts Hiatus-Modell als zentralem Gattungsmerkmal übt. Dieses ist nach Limlei keineswegs gattungsspezifisch für den historischen Roman, sondern – hier greift Limlei auf die Theorien Ingardens und Barthes’ zurück – für fiktives Erzählen grundsätzlich:
Nicht das polare Nebeneinander von Historie und Dichtung, sondern die spezifische Vermittlungsabsicht zwischen geschichtlicher Welt und individualisiertem Entwurf; nicht der Hiatus zwischen Realität und Fiktion, sondern die wie immer problematische Absicht ihrer Verschränkung innerhalb eines dynamischen und zielgerichteten Handlungsverlaufs, können als signifikante Besonderheiten des historischen Erzählens bezeichnet werden.33
In seinem ausführlichen Überblick über die Gattung im 19. Jahrhundert fühlt Limlei sich folglich weniger den Ergebnissen der jüngeren Forschung als vielmehr der Studie Lukács’ verpflichtet, wenngleich er dessen literaturpolitische Zielsetzung nicht teilt. Mit Lukács und unter Rückgriff auf das ästhetische Modell Jan Mukarosvkys begreift Limlei Literatur als genuin referenziellen Text, der »in mehrfacher Hinsicht an eine außerhalb des Werks gegebene Realität gebunden« sei; mit anderen Worten: »[…] jeder literarische Text besteht aus nichts anderem als ›historischem Material‹.«34 Im Vergleich zu seinen Vorgängern befreit Limlei den literarischen Text damit nicht von einer lediglich auf Referenzialität abzielenden Wirkungsintention, sondern schreibt sie ihm als Charakteristikum ein: »In der Vermittlungsabsicht des historischen Romans, Historie und Dichtung ineinander aufgehen zu lassen, steckt eine Aussage über die historische und mittelbar über die eigene gesellschaftliche Wirklichkeit.«35 Insgesamt kann Limleis Versuch einer Neuorientierung der Gattung nicht überzeugen – er bleibt in seinen Definitionsversuchen weit hinter dem sowohl selbstreferenziellen wie auch gattungspoetologischen Potenzial zurück, welches die Auseinandersetzung mit dem »anderen historischen Roman« aufdecken konnte. Wenn Limlei als die eigentliche Gattungsbesonderheit des historischen Romans ausmacht, »daß er sie [die Geschichte, S.C.] als einziges und unübersteigbares Feld der Bewährung für die handelnden Figuren und die von ihnen vertretenen Werte, Prinzipien und Zielsetzungen darstellt und in seine Struktur aufnimmt«,36 dann lässt sich das spätestens für jene Texte der Gegenwart, die in der vorliegenden Untersuchung in den Blick genommen werden, nicht mehr halten.
Limleis Position erweist sich mit Blick auf die sich anschließende Forschung als nicht nachhaltig. Entsprechend stellt Gerhard Kebbel in seiner 1992 veröffentlichten Dissertation zur Poetik des historischen Romans fest, dass nach der durch Gepperts Studie evozierten Zäsur keine »innovativen Forschungsergebnisse« mehr vorgelegt werden konnten.37 Blickt man auf dazwischen liegende Veröffentlichungen, wie etwa David Roberts Herausgeberband zum deutschen historischen Roman,38 zeigt sich, dass Kebbels Urteil berechtigt ist und sich das Fortschreiben der Gattungsgeschichte zumeist in einem Positionierungsversuch zwischen den konträren Ansätzen Lukács’ und Gepperts erschöpft. Im Gegensatz zu Limlei bekräftigt Kebbel die durch Gepperts Modell des anderen historischen Romans für die Forschung erbrachte Innovationsleistung und sieht die zentrale Problematik der Gattung »mit der Differenz zwischen den Kategorien des Historischen und des Fiktiven« hinlänglich bestimmt.39 Unter Rückgriff auf dekonstruktive Lektüremodelle schlägt Kebbel eine literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit historischen Romanen vor, der es gerade nicht darum geht, den Gegensatz von Hiatus und Fiktion in seiner narrativen Verarbeitung aufzuschlüsseln, sondern diesen als grundsätzliches der Gattung eingeschriebenes Paradoxon aufzufassen. Die Konfrontation von fiktionalem und historischem Wissen entstehe, weil der historische Roman mit Elementen aus einem außerliterarischen Kontext arbeite, »zu denen der grundsätzliche Konsens best[ünde], daß sie vergangene Wirklichkeit wahrheitsgetreu schildern: eben der Geschichtsschreibung.«40 Mit seiner Gegenüberstellung von fiktionalen literarischen und authentischen, wirklichkeitsabbildenden historischen Texten ignoriert Kebbel die Diskussionen um die Konstruktion der Geschichte nicht erst im literarischen Text, sondern im Medium des Narrativen grundsätzlich. Gerade diese Debatten erschüttern den Begriff der Geschichte in der Folge des linguistic turn nachhaltig – und ziehen Termini wie »Wahrheitstreue« für historiografische Texte bereits in Zweifel. Dessen ungeachtet strebt Kebbel in seiner Studie eine dekonstruktive Lektüre historisch-fiktionaler Texte an, deren Ziel es sein müsse, »zu zeigen, an welchen Stellen im System des Textes die spezifische Form der Geschichtserzählung sich gegen sich selbst wendet und so das immer schon vorhandene Paradoxon akzentuiert.«41 Letztlich entspricht diese Leitfrage eben jener, mit der bereits Geppert an das Modell des »anderen« historischen Romans herangetreten war. Auf diese gattungsimmanente Differenzierung aber verzichtet Kebbel bewusst, da die selbstreferenzielle Problematisierung der Opposition von Fakt und Fiktion sämtlichen Texten inhärent und es damit Aufgabe der dekonstruktiven Lektüre sei, diese herauszufiltern. Entsprechend meint der Lektüreprozess bei Kebbel immer auch die Auseinandersetzung mit bereits stattgefundenen Textlektüren, welche eine »Rezeptionsgeschichte als eine Geschichte der misreadings« begründen soll.42 Auf das Problem einer Lektüre im Zeichen der Dekonstruktion muss Kebbel jedoch selbst hinweisen: »Die Dekonstruktion kann den Prozeß des Mißverstehens nicht beenden: Sie kann ihn nur über die Reflexion zu einem anderen Status im kritischen Bewußtsein verhelfen.«43 Neben diesem methodologischen Problem, das Kebbel stellvertretend für jede dekonstruktivistische Auseinandersetzung mit Texten formuliert, macht es seine reduzierte und kaum systematische Auswahl an Primärtexten (die sich auf Romane Scotts, Brechts und Pynchons beschränkt) unmöglich, über die jeweils spezifische Textpoetik hinaus tatsächlich repräsentative Aussagen für die gesamte Gattungsgeschichte zu formulieren. Hier liegt wohl der entscheidende Grund für die nur marginale Wirkungskraft des von Kebbel vorgeschlagenen Lektüremodells.
Mit Hermann J. Sottongs Studie zum historischen Erzählen von der Goethezeit zum Realismus erscheint 1992 eine Arbeit, die zunächst harsche Kritik an der bis dahin erschienenen Forschungsliteratur übt.44 Diese bezieht sich insbesondere auf die zu dominante Rolle, die den Romanen Scotts im Bemühen die Gattung zu bestimmen eingeräumt wurde. Damit ignoriert Sottong allerdings die Versuche der Forschung, Scotts Einfluss auf Form und Aussehen der Gattung zu relativieren, wie sie von Geppert, Reitemeier und Kebbel unternommen wurden. Hier zeigt sich im Übrigen, dass die Dominanz der Scott’schen Vorlage nicht allein in der literarischen Wirkungsgeschichte seiner Texte, sondern auch in einer Gattungsforschung begründet liegt, die nicht müde wird, die Vorreiterrolle des Schotten im Kontext der Gattungsgeschichte und -entwicklung zu betonen.
Sottong strebt seinerseits eine Revision der Gattungsdefinition an, indem er diese als »kulturrelativ« begreift und sie ausgehend von der Analyse einzelner Texte und epochenspezifisch zu schärfen versucht. Vor diesem Hintergrund gelangt er zu einer Definition des Genre »Historisches Erzählen« (das hier das historisch-fiktionale Erzählen meint), das drei Bedingungen erfüllen müsse: 1. Die dargestellten Ereignisse müssen in der Vergangenheit liegen, wobei der Erzählabstand zum dargestellten Zeitraum nicht generalisierend festzulegen, sondern abhängig »vom Denksystem derjenigen Kultur« sei, in welcher der historisch-fiktionale Text entstehe. Die auf Scotts Waverley zurückgehende Vorgabe von sechzig Jahren verweist mit Sottong auf das spezifische Geschichtsverständnis Scotts, nicht aber auf eine die Gattung dominierende Norm.45 2. Der Text müsse die aus der nachzeitigen Erzählsituation resultierenden historischen Unterschiede zwischen dargestellter und zeitgenössischer Kultur explizit machen, da nicht jeder Text, der in der Vergangenheit