In der vorliegenden Studie bleibt der Begriff des historischen Erzählens somit dem akademischen Diskurs, den wissenschaftlich-historischen Texten vorbehalten, während mit einem historisch-fiktionalen Erzählen die literarische Narration gemeint ist. Der historische Roman wird dem historisch-fiktionalen Erzählen zugerechnet, wobei der letztgenannte Begriff den im Rahmen der Studie favorisierten bezeichnet. Dies begründet sich zum einen durch die eingangs angedeutete Gefahr, mit einer universalistischen Gattungsbezeichnung die angestrebte Sensibilisierung für die spezifischen Merkmale historisch-fiktionalen Erzählens der Gegenwart zu verschleiern. Zum anderen ermöglicht es der weiter gefasste Begriff, den Textkorpus auf kürzere Texte, etwa Erzählungen von Felicitas Hoppe, W.G. Sebald, Günter Grass oder Erich Hackl auszuweiten. Bewusst will die Studie eine terminologische Engführung der Gattung vermeiden und die hier untersuchte historisch-fiktionale Literatur auf Texte ausweiten, welche die Ränder der Gattung markieren, dabei aber Merkmale des historisch-fiktionalen Erzählens der Gegenwartsliteratur durchaus repräsentativ vertreten. Dazu gehören etwa Texte, die an der Schnittstelle zwischen historisch-fiktionalem und autobiografischem Erzählen verortet sind (Uwe Timm, Am Beispiel meines Bruders) oder deren erzähltes Geschehen die Grenze zwischen Historie und Zeitgeschichte vergegenwärtigt (Benjamin Stein, Die Leinwand). Mit Lukas Hartmanns Bis ans Ende der Meere (2009) wird zudem einer jener historischen Romane berücksichtigt, der die Möglichkeiten einer finalen Grenzziehung zwischen dem historischen Roman als Gattung des Unterhaltungsgenre und dem vermeintlich ungleich selbstreflexiveren ›anderen‹ historischen Roman bereits in Frage stellt.
Nicht berücksichtigt wird das erst in jüngerer Zeit so benannte Genre der ›kontrafaktischen literarischen Geschichtsdarstellung‹. Darunter sind Texte zu verstehen, deren primäres Ziel »das erkennbare Abweichen von tradierten Auffassungen über Verlauf und Hergang vergangener Ereigniskonstellationen,« mithin das Imaginieren einer alternativen Vergangenheitsversion darstellt.14 Die Wirkungsdimension solcher Texte ist mit Andreas Martin Widmann durch die in ihnen angelegte provozierte »Differenz zwischen dem als bekannt und faktisch vorausgesetzten Wissen über historische Vorgänge und Zusammenhänge und der im fiktionalen Erzähltext dargestellten Version ebendieser Vorgänge und Zusammenhänge« bestimmt. Damit aber fordern solche Texte implizit das Wissen des Rezipienten um das vermeintlich ›richtige‹ historische Geschehen ein – nur in Abgrenzung dazu kann die dargestellte kontrafaktische Geschichtsdarstellung ihre Wirkungskraft entwickeln. Anders sieht es bei den in der vorliegenden Studie untersuchten Texten aus, die auch dort, wo sie eine ›erfundene‹ Geschichtsversion ausstellen, die Problematisierung historischer Eindeutigkeit unabhängig vom historischen Vorwissen des Rezipienten im literarischen Erzählen selbst verankern. Die besondere Leistung historisch-fiktionaler Texte der Gegenwart liegt darin begründet, die Fiktionalisierung der Historie ebenso zu reflektieren wie die der Geschichtsschreibung inhärenten fiktionsstiftenden Merkmale. Bisherige Forschungspositionen, die den ›anderen‹ historischen Roman als kritisches Instrument begreifen, den grundsätzlichen Hiatus zwischen Geschichte und Fiktion sichtbar zu machen, möchte die vorliegende Studie erweitern: Sie lässt sich von der Prämisse leiten, dass dieser Hiatus in dem Geschichtsbegriff begründet liegt, den die Gattung kritisch prüft und dessen Reflexion ihre Teilhabe am Geschichtsdiskurs der Gegenwart unterstreicht.
I. Teil: Von der Geschichte zum Text
2 Erzählte Geschichte zwischen Aufklärung und Historismus
Die Problematisierung eines historisch-fiktionalen wie -faktualen Erzählens reicht an den Beginn der modernen Geschichtsschreibung und die Ausdifferenzierung des Geschichtsbegriffs im 18. und 19. Jahrhundert zurück. Die Entwicklung der Historik zur wissenschaftlichen Disziplin ist immer schon an die Frage gebunden, wie sich die sprachliche Konstitution der Historie mit ihrer gleichzeitig behaupteten epistemologischen Bedeutung vereinbaren lässt. Zudem lässt sich inzwischen eine »Rehabilitierung«1 des Rhetorischen in der Geschichtswissenschaft beobachten, die mit der Einsicht in die narrative Struktur historischen Wissens unmittelbar in jene Zeit zurückführt, die rhetorische Elemente noch nicht aus der Geschichte verbannt, sondern als eines ihrer konstitutiven (wenngleich nicht unproblematischen) Merkmale angesehen hat.
Für die Wiederbelebung der sogenannten Aufklärungshistorie sprechen jene Forschungsunterfangen, die sich in den letzten Jahren den Anfängen der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft gewidmet und zahlreiche der um 1800 erschienenen Texte mit Blick auf die Problematisierung eines historischen Erzählens im Anschluss an die Thesen Hayden Whites neu geprüft haben. Der Fokus wurde dabei weniger auf die tatsächliche historische Erkenntnis durch historiografische Texte als vielmehr auf die Darstellungsform historischer Wissensvermittlung gelegt, mithin auf das Erzählen der Geschichte. Die daraus resultierende Forschungskontroverse lässt sich exemplarisch anhand zweier Studien beschreiben, die im Abstand weniger Jahre veröffentlicht worden sind: Zum einen legt der Germanist Daniel Fulda 1996 eine Dissertation vor, die unter dem programmatischen Titel Wissenschaft aus Kunst den Interferenzbereich zwischen Geschichte und Literatur im 18. Jahrhundert beleuchtet.2 Fulda leitet die Etablierung der modernen Historiografie aus poetologisch-ästhetischen Diskussionen des 18. Jahrhunderts her, indem er deren »weitreichende Folgen für die Selbstwahrnehmung beider Wissensformen im 19. Jahrhundert« nachzuweisen sucht.3 Die nicht minder programmatisch argumentierende Dissertation Geschichtsschreibung oder Roman des Historikers Johannes Süssman (2000) wendet sich entschieden gegen Fuldas Thesen, die seines Erachtens »ein durch und durch schiefes Bild vom Verhältnis zwischen Geschichtsschreibung und Roman« vermitteln.4 Im Gegensatz zu Fulda sucht Süssmann, in kritischer Auseinandersetzung mit den Thesen Hayden Whites, einen Erzählbegriff zu profilieren, der nicht zwangsläufig an ein literarisches Erzählen gekoppelt ist, sondern an Kategorien des Erzählens, die »zwar zuerst an fiktonalen Erzählungen erkannt und beschrieben wurden, nur deswegen aber keineswegs selbst fiktionaler Natur sind.«5 Eine Ästhetisierung der Historie durch das Erzählen bestreitet Süssmann ebenso wie die vermeintliche Fiktionalität der Geschichtsschreibung – wenngleich er selbst relativierend einräumen muss:
Es gibt kein absolutes Kennzeichen, das Geschichtsschreibung und Geschichtsdichtung, pragmatische und fiktionale Texte voneinander unterscheidet. Alle Erzählmerkmale, die man konventionellerweise für solche Kennzeichen halten möchte, erweisen sich bei näherem Hinsehen als uneindeutig.6
Dennoch hält Süssmann an einer klaren Differenzierung zwischen literarischem und historischem Erzählen von Beginn der Geschichtsschreibung im 18. Jahrhundert an fest: Er schlägt vor, den Status der Texte über die Art ihres Gebrauchs, mithin die von ihnen intendierte Wirkungsabsicht zu definieren, welche er allem voran von der Beschaffenheit der Erzählinstanz abzuleiten versucht.7 Diese nämlich stelle, so Süssmann, endlich ein »immanentes Kriterium für die Beurteilung der verschiedenen Textsorten« zur Verfügung, entscheide über Wissenschaftlichkeit oder Unwissenschaftlichkeit des jeweiligen Textes und führe zu einer inneren Konstitutionslogik historiografischer Texte, die stets der »größtmögliche[n] Annäherung an die historische Wahrheit« verpflichtet sei.8
Diese hier kurz skizzierte Kontroverse erweist sich in zweifacher Hinsicht als repräsentativ im Hinblick auf die gegenwärtig literatur- wie geschichtswissenschaftlich virulent gewordene Frage nach dem Verwandtschaftsverhältnis von Literatur und Historiografie: Zum einen, weil sich beide der dargestellten Positionen ganz grundsätzlich auf die oft beschworene »Sattelzeit«9 des auslaufenden 18. Jahrhunderts beziehen und nicht zufällig von hier aus ihre Argumentation entwickeln. Zum anderen, weil die Kontroverse zwischen dem