Bei der Dissertation Ralph Kohpeiß’, veröffentlicht 1992, handelt es sich um einige der wenigen und zugleich jüngsten Studien zum deutschsprachigen historischen Roman der Gegenwart. Diesen sucht Kohpeiß zunächst in einem knappen Überblick über die Literatur nach 1945 und schließlich durch exemplarische Einzelanalysen zu Texten zwischen 1979 und 1989 zu erfassen. Er schlägt eine Gattungsdefinition vor, die als zentrale Elemente eines »definitorischen Minimalkonsens’« Fiktionalität, ästhetische Verfasstheit sowie historische Referenz festhält und zu einem pragmatischen Bestimmungsversuch führt:
Der historische Roman ist ein Sprachkunstwerk, dessen Spezifikum darin liegt, daß es historisch authentische Personen und/oder Tatsachen in einen literarisch-fiktionalen Rahmen integriert.49
Als Fazit aus seiner Betrachtung stellt Kohpeiß für den historischen Roman der Gegenwart einen »gegenwartsorientierte[n], kritisch-aufklärerischen[n] Umgang mit der Historie« fest, »der sich der spezifischen Probleme des historischen Erzählens bewußt bleibt«.50 Problematisch, zumindest aber nicht zutreffend hinsichtlich der Gattungsentwicklung im 21. Jahrhundert bleibt Kohpeiß’ Befund, dass die Geschichte »in einigen Texten auf die Funktion eines Ambientes reduziert oder aufs Formelhafte verkürzt« werde und eine Auseinandersetzung mit – bzw. eine Gestaltung von Geschichte weitgehend ausbleibe.51 Tatsächlich lassen sich gerade die Reduktion historischer Daten sowie die von Kohpeiß konstatierte komplexe Erzählhaltung, die Muster traditionellen Erzählens sprenge, keineswegs als bloße Marginalisierung der Historie deuten. Vielmehr sind sie auch als Signale einer bewussten Problematisierung historischen Wissens und historischer Erkenntnis im Medium der Literatur zu verstehen. Die selbstreferenzielle Bezugnahme historisch-fiktionaler Texte auf den eigenen Umgang mit der Geschichte, mithin die Thematisierung geschichtsstiftender narrativer Prozesse blendet Kohpeiß’ Studie aus – auch, weil sie sich von zeitgenössischen geschichtstheoretischen Diskursen relativ unbeeindruckt zeigt. Unerwähnt bleibt etwa Hayden Whites einflussreiche Studie Metahistory, die bereits in den 1980er Jahren nicht nur das geschichtswissenschaftliche Selbstverständnis neu ausrichtet, sondern zu einer theoretischen Problematisierung des Geschichtsbegriffs führt, wie sie seither Eingang in sämtliche Formen narrativer Geschichtsmodelle, darunter auch in die von der Geschichte erzählende fiktionale Literatur, findet.
Die aktuellste epochenübergreifende Einführung in den spezifisch deutschsprachigen historischen Roman verdankt sich Hugo Aust und seiner 1994 veröffentlichten Studie zur Gattung, die neben einem literaturhistorischen Überblick auch einen raumgreifenden Forschungsüberblick bietet. Einer engen Gattungsdefinition verweigert sich Aust, der einleitend feststellt: »Was ein historischer Roman ist, ändert sich mit dem, was ›Geschichte‹ bedeutet und Erzählkunst vermag.«52 In der Folge beschränkt er sich darauf, die »Geschichtssignale« aufzulisten, die historische Romane »für gewöhnlich« implizieren. Dazu gehören mit Aust etwa historische Daten, Figuren und häufig eine »temporale Individualisierung von Sprache«, die darum bemüht bleibt, die Figuren im historischen Gewand sprechen zu lassen. Darüber hinaus begegne, insbesondere bei Autoren des 19., aber auch noch des 20. Jahrhunderts, ein Erzählervorwort, das die Nachzeitigkeit des Erzählvorgangs zum Erzählten sichtbar mache und zuweilen das seriöse historische Bestreben der erzählenden Figur unterstreiche. Typischerweise werde der historische Roman dabei mit einem ersten Satz eingeleitet, der durch Angabe eines Datums, eines genauen Ortes, historischer Figuren etc. »das Licht im Geschichtsraum« entzündet und bemüht ist, »eine Brücke zwischen Gegebenem und Erfundenem zu schlagen und so den Daten eine poetische Funktion zu verleihen.«53 Eine ähnliche Tendenz lässt sich mit Aust für das Romanende feststellen, das den Spannungsbogen an den Anfang zurückbindet und damit ein kohärentes historisch-fiktionales Erzählen ermöglicht. Dem Vorbild Scotts eifern, so zeigt Aust an einigen Beispielen vorrangig aus dem 19. Jahrhundert, jene Autoren nach, die ihre Texte mit Anmerkungen und Fußnoten versehen und dadurch Faktentreue und einen wissenschaftlichen Anspruch simulieren, der sich die hybride Anlage der Gattung, dieses »episch-wissenschaftlichen Zwitters« verdankt.54 Hinsichtlich der im historischen Roman (mit Aust auch Geschichtsroman) erzählten Handlung finden sich, so Aust weiter, häufig politische Handlungen der realen Vergangenheit, die mit privaten Handlungen einer fiktiven Geschichte kombiniert werden: »Geschichte wird dadurch zum Integral unterschiedlicher ›Werte‹, sie gewinnt ihre konkrete Position im Koordinatenraum von Historischem, Ahistorischem und Fiktivem.«55 Insgesamt zeigt sich Austs Studie bemüht, die Gattung nicht auf eine allzu enge Begriffsdefinition zu reduzieren. Entsprechend führt er verschiedene Formen des historischen Romans an, die insgesamt das Bild der Gattung bestimmen und dabei nur schwerlich klar zu differenzieren sind. Dazu gehören etwa der Zeit- und Familienroman, die Familienchronik, die Autobiografie und die Memoirenliteratur, die sich mit Aust allesamt als Varianten der Gattungsgeschichte deuten lassen. Darüber hinaus unterscheidet er zwischen historischem »Vielheitsroman« und historischem »Individualroman«, der im Gegensatz zu ersterem näher an die biografische Form rücke. Entscheidend mit Blick auf die Gegenwart der Gattung erweist sich Austs Differenzierung von »rekonstruktivem« und »parabolischem« historischen Roman, die er selbst an die von Geppert eingeführte Unterscheidung zwischen »üblichem« und »anderem« historischen Roman anlehnt. Während es der rekonstruktiven Variante der Gattung um eine »möglichst authentische Wiederherstellung einer früheren geschichtlichen Person, Epoche oder Welt« gehe, inszeniere der parabolische Roman Geschichte auch als »Spiegel für die Gegenwart« und sei keineswegs um ein harmonisches ineinander Aufgehen von Fiktion und Historie bemüht, sondern demonstriere vielmehr ausgeprägte desillusionistische Tendenzen.56
In Austs Zusammenfassung des Forschungsstands zur Gattung57 bestätigen sich jene Tendenzen, die auch der vorliegende Forschungsüberblick bislang offen legen konnte: Die Produktion historisch-fiktionaler Literatur zwischen 1780 und 1945 ist hinlänglich dargestellt und bibliografisch erfasst worden, nicht zuletzt durch das vom österreichischen Forschungsfonds FWF geförderte und am Institut für Germanistik der Universität Innsbruck in den Jahren 1991 bis 1997 durchgeführte Projekt zum deutschsprachigen historischen Roman. Im Kontext dieses quantitativ orientierten Projekts wurde eine Datenbank mit einer vollständigen Bibliografie des historischen Romans online gestellt, die ca. 6300 Titel aufführt.58 Zur Gattungstheorie können die Ergebnisse des Projekts kaum beitragen, lautet sein erklärtes Ziel doch, den deutschsprachigen historischen Roman von 1780 bis 1945 möglichst vollständig bibliografisch zu erschließen, um damit eine »sozialhistorisch und literatursoziologisch fundierte Gattungsgeschichte zu verfassen, die nicht nur den gängigen Kanon der bekannten historischen Romane sondern die ganze Breite des Genres berücksichtigt«.59 Angesichts der oben beschriebenen, mitunter kontroversen Bestimmungsversuche der Gattung erstaunt die äußerst pragmatische Definition, die das Projekt dem von ihm verwendeten Gattungsbegriff zugrunde legt. Eine entsprechende Kurzvorstellung verweist auf gängige Definitionen der Gattung Roman sowie auf die vermeintlich »anerkannte« Definition der Anglistin Ina Schabert, wonach »die Romanhandlung nicht ›Selbsterlebtes und Erinnertes‹ enthalten dürfe.«60 Darüber hinaus führt das Projekt all jene Texte auf, die sich selbst im Titel als »historische Romane« oder »Geschichtsromane« bezeichnen. Eine nicht unbedingt ausführlichere, aber zumindest etwas präzisere Definition findet sich in dem von Günter Mühlberger und Kurt Habitzel verfassten Beitrag, der die Ergebnisse des Projekts und die Verwendung der Datenbank erläutert.61 Einleitend räumen die Autoren zwar ein: »The question of what a historical novel really is remains debatable.«, plädieren im Anschluss aber für eine pragmatische Definition, welche ihres Erachtens für die bibliografische