Im Unterschied zu der Vereinnahmung durch White begründet Foucault den Repressionscharakter der Sprache jedoch nicht ausgehend von zeitgenössischen strukturalistischen Überzeugungen, sondern indem er, spätestens in der Archäologie des Wissens, einen Diskursbegriff etabliert, der »die diskursiven Praktiken in ihrer Komplexität und in ihrer Dichte« nachzeichnet und dabei zu zeigen sucht, »daß Sprechen etwas tun heißt.«19 Im Gespräch mit Raymond Bellour versucht Foucault den entscheidenden Unterschied zwischen strukturalistischen Ansätzen und der eigenen Diskursanalyse auszuführen:
Ich bin im Unterschied zu jenen, die man als Strukturalisten bezeichnet, nicht so sehr an den formalen Möglichkeiten eines Systems wie der Sprache interessiert. Mich persönlich reizt vielmehr die Existenz der Diskurse, die Tatsache, daß Äußerungen getan worden sind, daß solche Ereignisse in einem Zusammenhang mit ihrer Ursprungssituation gestanden haben, daß sie fortbestehen und mit ihrem Fortbestand innerhalb der Geschichte eine Reihe von manifesten oder verborgenen Wirkungen ausüben.20
Entsprechend distanziert Foucault in Archäologie des Wissens sein diskursanalytisches Konzept explizit von der bloßen »Übertragung einer strukturalistischen Methode […] auf das Gebiet der Geschichte und insbesondere der Geschichte der Erkenntnisse.«21 Stattdessen profiliert Foucault eine Analysemethode, die nicht den linearen Verlauf der Geschichte, sondern die Gleichzeitigkeit (Häufung) diskursiver Formationen untersucht – ein Verfahren, das er selbst als »den Typ von Positivität eines Diskurses zu definieren«22 bezeichnet; augenzwinkernd erfolgt eben hier die Selbstausweisung Foucaults als »glücklicher Positivist«.23 Dabei geht Foucault von der Vorstellung eines positiv zu bestimmenden diskursiven Feldes aus, als »die stets endliche und zur Zeit begrenzte Menge von allein den linguistischen Sequenzen, die formuliert worden sind.«24 Damit stellt die Diskursanalyse, die sich auf endliche und bestimmbare Mengen von Aussagen konzentriert, grundsätzlich andere Fragen als die sich auf ein »beliebiges« diskursives Faktum beziehende strukturalistische Sprachanalyse:
[G]emäß welchen Regeln ist eine bestimmte Aussage konstruiert worden und folglich gemäß welchen Regeln könnten andere ähnliche Aussagen konstruiert werden? Die Beschreibung der diskursiven Ereignisse stellt eine völlig andere Frage: wie kommt es, daß eine bestimmte Aussage erschienen ist und keine andere an ihrer Stelle?25
Whites Einsicht, der »versteckte Protagonist« der frühen Schriften Foucaults sei die Sprache, greift folglich ebenso wie seine Analyse Foucaults als »eschatologischen Strukturalisten«, für den »das ganze menschliche Leben als ein ›Text‹ zu behandeln« sei, zu kurz.26 Die Vereinnahmung Whites erklärt sich aus seinem Bemühen, Foucault als Verwandten Giambattista Vicos zu deuten, da er »eine ähnliche Art tropologischer Reduktion« in Foucaults Analyse der humanwissenschaftlichen Archäologie vorzufinden glaubt. Mit dieser Erkenntnis sieht White sich legitimiert, Foucault seine eigene These einer »Poetik der Geschichte« zuschreiben zu können, so dass er schlussfolgert:
Die Prosa in Dichtung umzuwandeln ist Foucaults Absicht und so geht es ihm vor allem darum zu zeigen, wie alle Denksysteme in den Humanwissenschaften als wenig mehr denn als terminologische Formalisierungen des poetischen Sich-Arrangierens mit der Welt der Wörter statt mit den Dingen, die sie zu repräsentieren und zu erklären behaupten, gesehen werden können.27
Eine solche Reduktion der Thesen Foucaults, wie White sie exemplarisch vorführt, ist, wie wir gesehen haben, mit Blick auf das eigentliche Ziel der Diskursanalyse, wie Foucault es in Archäologie des Wissens spezifiziert, freilich irreführend. Tatsächlich verweigert sich Foucaults Werk einer strengen Subsumierung unter den linguistic turn oder den Strukturalismus, da die von White gänzlich ausgesparte diskursive Praxis sukzessive eine größere Rolle einzunehmen scheint als die Sprache.28 Foucault schärft einen Diskursbegriff, der über eine rein sprachliche Dimension hinausgeht und die praktische Ebene des Handelns mit einbezieht. Unmissverständlich wird diese Ausweitung der sprachlichen Ebene, wenn Foucault es in Archäologie des Wissens nicht als seine primäre Aufgabe begreift,
die Diskurse als Gesamtheiten von Zeichen (von bedeutungstragenden Elementen, die auf Inhalte oder Repräsentationen verweisen), sondern als Praktiken zu behandeln, die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen. Zwar bestehen diese Diskurse aus Zeichen; aber sie benutzen diese Zeichen für mehr als nur zur Bezeichnung der Sachen. Dieses mehr macht sie irreduzibel auf das Sprechen und die Sprache. Dieses mehr muß man ans Licht bringen und beschreiben.29
Mit der Diskursanalyse schreibt Foucault Geschichte neu, schreibt sie – indem er das nicht Ausgesprochene, die den Diskurs steuernden »Ausschließungssysteme«30 in den Blick nimmt – von ihren Rändern her. Das ist der lose historiografische Faden, der sein frühes Werk mit dem späten verbindet. Damit bleibt Foucault trotz seines Denkens, »das uneinheitlich war und unruhig war, das Widersprüche oder zumindest konzeptionelle Spannungen zuließ und das sich auch ständig veränderte, ohne seine Grundlinien zu verlassen«,31 dem Leitsatz seiner frühen Veröffentlichung Wahnsinn und Gesellschaft treu, in der es heißt:
Man könnte die Geschichte der Grenzen schreiben – dieser obskuren Gesten, die sobald sie ausgeführt, notwendigerweise schon vergessen sind –, mit denen eine Kultur etwas zurückweist, was für sie außerhalb liegt; und während ihrer ganzen Geschichte sagt diese geschaffene Leere, dieser freie Raum, durch den sie sich isoliert, ganz genau soviel über sie aus wie über ihre Werte; […] Eine Kultur über ihre Grenzerfahrungen zu befragen, heißt, sie an den Grenzen der Geschichte über eine Absplitterung, die wie die Geburt ihrer Geschichte ist, zu befragen.32
Es bleibt zentrales Anliegen Foucaults, die gesellschafts- und wertkonstituierenden Institutionen wie Praktiken der Macht sowie deren Ausschließungsmechanismen (Wahnsinn, Krankheit, Tod, Sexualitätsdiskurs, Anomalie, Gefängnis) ins Auge zu fassen, die er allesamt als Resultat einer dialektisch verstandenen Aufklärung begreift. Dem Nachvollziehen dieser »Geschichte über eine Absplitterung« verpflichtet sich Foucault, wenn er in Wahnsinn und Gesellschaft der Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft nachgeht, in Die Anormalen das Aufkommen von ›Normalisierungstechniken‹ und die von ihnen Ausgeschlossenen untersucht oder in Der Wille zum Wissen die »polymorphen Techniken der Macht« des abendländischen Diskurses über die Sexualität herausstellt.
Nicht zufällig zitiert Philipp Sarasin in seinem Essay zur ›Zukunftsträchtigkeit‹ Foucaults aus einem Artikel, den Foucault 1979 mit Blick auf die iranische Revolution der Jahre 1978/79 verfasst. Darin beschreibt Foucault die geschichtsmächtige Kraft jener Stimmen, die sich vom Rande der Gesellschaft und gegen die Machtinstanzen, die sie als Ausgeschlossene (Strafgefangene, Irre, unterdrücktes Volk) erst produzieren, erheben. Warum nun ist, mit Foucault, das Vernehmen dieser Stimmen so wesentlich?
Niemand muss glauben, diese wirren Stimmen sängen schöner als andere und sagten die letztgültige Wahrheit. Es genügt, dass sie da sind und alles sie zum Schweigen zu bringen versucht, damit es sinnvoll ist, sie anzuhören und verstehen zu wollen, was sie sagen. Eine Frage der Moral? Ganz sicher eine Frage der Realität. Daran ändern auch all die Enttäuschungen der Geschichte nichts. Weil es solche Stimmen gibt, hat die Zeit des Menschen nicht die Form der Evolution, sondern die der ›Geschichte‹.33
Indem Foucault darauf beharrt, Geschichte unter Berücksichtigung dieser Stimmen zu schreiben und zu verstehen, weil sie, mit Sarasin, »die Wirklichkeit prägen und weil sich in ihnen Subjekte manifestieren«,34 erweist er sich längst nicht als jener »Verleugner der Geschichte und Verächter des Subjekts«, auf den ihn Kritiker reduzieren.35 Vielmehr nimmt Foucault, obgleich er die historische Metaerzählung, allen voran jene der Aufklärung, ablehnt, die Geschichte ernst, nicht als lineare, dem Fortschritt verpflichtete kohärente Entwicklung, sondern mit ihren Widersprüchen, Rückfällen, Zäsuren – und in der Gleichzeitigkeit von Disparatem, Zufälligem und Ähnlichem. Das Werkzeug, eine solche Geschichte aufzuschlüsseln, liefert er mit der Diskursanalyse und bereitet damit den Boden für jenen theoretischen Ansatz, der den narrativen Charakter der Geschichte mit der historischen Bedingtheit