Der in den 1980er Jahren in den USA aufkommende Theorieansatz des New Historicism verschränkt Fragestellungen einer unter dem Signum der Postmoderne stehenden Literatur- wie Geschichtswissenschaft programmatisch. Zunächst scheint er von geringer Relevanz für die Geschichtswissenschaft zu sein, da er ausdrücklich als literaturwissenschaftliche Theorie bzw. Methode implementiert wird. Als entscheidendes Bindeglied zwischen einer poststrukturalistisch verstandenen Postmoderne und der kulturanthropologisch begründeten Auffassung von »Kultur als Text« erweist sich der New Historicism insofern als interdisziplinärer Schnittpunkt der Fächer Geschichte und Literaturwissenschaft, als er, über spezifische Fächergrenzen hinaus, kulturwissenschaftliche Perspektiven, mithin den cultural turn der 1990er Jahre, mitbegründet.
Die relevantesten theoretischen Voraussetzungen des New Historicism macht Louis Montroses programmatischer und vielzitierter Bestimmungsversuch des neuen Ansatzes sichtbar:
Die poststrukturalistische Ausrichtung auf Geschichte, die jetzt in der Literaturwissenschaft aufkommt, kann mit einem Chiasmus bezeichnet werden als ein reziprokes Interesse an der Geschichtlichkeit von Texten und der Textualität von Geschichte.1
Die erste hier angesprochene Prämisse von der Geschichtlichkeit der Texte ist vorrangig, Moritz Baßler hat darauf hingewiesen, im Kontext einer amerikanischen Literaturwissenschaft zu verstehen, die seit den 1930er Jahren eine verstärkt textimmanente Auseinandersetzungen mit literarischen Texten, ein so genanntes close reading bevorzugt, welches in Deutschland zur selben Zeit eine eher untergeordnete Rolle spielt.2 Hier ist das Wissen um die »Geschichtlichkeit von Texten« längst etabliert und bildet die Voraussetzung geistes-, ideologie- und sozialgeschichtlicher Ansätze, die den literarischen Text grundsätzlich nicht jenseits eines historischen Kontextes rezipieren, sondern ihn in Bezug zu außerliterarischen Wirklichkeiten setzen. Nachholbedarf besteht unter deutschsprachigen Literaturwissenschaftlern vielmehr (im Gegensatz zum theoretisch ›progressiveren‹ amerikanischen Raum) im Bezug auf die von Montrose konstatierte Textualität von Geschichte, die auf Ergebnisse der oben umrissenen poststrukturalistischen Debatte fußt, welche in Deutschland, so urteilt Baßler noch im Jahr 2001, »nach wie vor nicht den theoretischen Status quo« bezeichne.3
Mit ihren Thesen zur »Textualität von Geschichte« erweisen sich die Vertreter des New Historicism als klare Erben jener Ansätze, die im vorausgegangenen Kapitel beleuchtet wurden. Sie teilen Hayden Whites Überzeugung von der poetischen Beschaffenheit des historischen Textes und gehen mit Jean-François Lyotard vom postmodernen Ende dominanter Metaerzählungen aus – etwa tradierter Mythen, der aufklärerischen Erzählung von der kontinuierlichen Emanzipation des Menschen und einem vermeintlich logischen Fortschritt der Geschichte.4 Auch beerbt der New Historicism die Foucault’sche Skepsis hinsichtlich der Linearität der Geschichte und einer vermeintlich konsequent fortschrittlichen Vernunftentwicklung. Das geeignete Instrument für eine Auseinandersetzung mit Texten, die den oben zitierten Chiasmus ernst nimmt, finden New Historicists in der Foucault’schen Diskursanalyse, welche die diachron-historische Perspektive um den synchronen Schnitt durch das diskursive Feld ergänzt, da nun, mit Foucault,
an die Stelle der Suche nach den Totalitäten die Analyse der Seltenheit, an die Stelle des Themas der transzendentalen Begründung die Beschreibung der Verhältnisse der Äußerlichkeit, an die Stelle der Suche nach dem Ursprung die Analyse der Häufungen [tritt].5
Daneben erweisen sich die Prämissen der anglo-amerikanischen interpretativen Kulturanthropologie6 als entscheidender Einfluss, allen voran deren Vertreter Clifford Geertz und James Clifford. Legt Hayden White für die Analyse historischer Texte ein literaturwissenschaftliches Verfahren nahe, fordert dementsprechend der amerikanische Ethnologe Clifford Geertz eine Sensibilisierung für den literarischen Charakter der Anthropologie sowie ein Verständnis des »Anthropologen als Schriftsteller«. Dieser wird nun nicht mehr als Vermittler empirisch nachweisbarer anthropologischer Details, sondern als Interpret einer Realität verstanden, die im Medium des anthropologischen Textes ausschließlich als vom Ethnologen bzw. Ethnografen bereits gedeutete begegnet.7 Dieses interpretative, immer schon reflektierende Beschreiben nennt Geertz thick description (dt. Dichte Beschreibung) und legt es als implizite (auch unbewusste) Strategie jedes ethnografischen Textes offen:
Dieser Sachverhalt – daß nämlich das, was wir als unsere Daten bezeichnen, in Wirklichkeit unsere Auslegungen davon sind, wie andere Menschen ihr eigenes Tun und das ihrer Mitmenschen auslegen – tritt in den fertigen Texten der ethnologischen Literatur […] nicht mehr zutage, weil das meiste dessen, was wir zum Verständnis eines bestimmten Ereignisses, Rituals, Brauchs, Gedankens oder was immer sonst brauchen, sich als Hintergrundinformation einschleicht, bevor die Sache selbst direkt untersucht wird.8
Das Resultat solcher dichten Beschreibungen bezeichnet James Clifford, im Unterschied zum Ethnologen Geertz selbst Historiker, als Halbwahrheiten (partial truths) – und hebt in seiner programmatischen Studie Writing Culture die Trennung zwischen Fiktion und ethnografischem Text vollends auf:
To call ethnographies fictions may raise empiricist hackles. But the word as commonly used in recent textual theory has lost its connotation of falsehood, of something merely opposed to truth. It suggests the partiality of cultural and historical truths, the ways they are systematic and exclusive. Ethnographic writings can properly be called fictions in the sense of »something made or fashioned,« the principal burden of the word’s Latin root, fingere. […] Ethnographic truths are thus inherently partial – committed and inclompete.9
Bei Clifford wie bei Geertz wird die Ethnologie im Kontext eines anthropologisch begründeten Kulturbegriffs ausgeweitet und in der Folge einer Semiotisierung unterworfen, die mit der Vorstellung einer empirischen, allein an naturwissenschaftlichen Gesetzen orientierten kulturanthropologischen Arbeit bricht.
Der Kulturbegriff, den ich vertrete und dessen Nützlichkeit ich in den folgenden Aufsätzen zeigen möchte, ist wesentlich ein semiotischer. Ich meine mit Max Weber, daß der Mensch ein Wesen ist, das in selbstgesponnene Bedeutungsgewebe verstrickt ist, wobei ich die Kultur als dieses Gewebe ansehe. Ihre Untersuchung ist daher keine experimentelle Wissenschaft, die nach Gesetzen sucht, sondern eine interpretierende, die nach Bedeutungen sucht.10
Mit Blick auf den hier konstatierten grundsätzlich diskursiven Charakter anthropologischer Befunde und ethnografischer Texte lässt sich, in Anlehnung an die geschichtstheoretische Diskussion, ein ähnlicher Verlust ethnologischer Referenzialität für die Anthropologie konstatieren. Die Ethnografie verweist, darin historischen Aussagen ähnlich, nicht mehr auf eine materielle Wirklichkeit, die sie genau abzubilden in der Lage wäre. Vielmehr legen auch anthropologische Texte ihren Sinn immer erst »über eine lange Kette von Übersetzungsprozessen, über ihre zunehmende Aufladung mit wechselnden Symbolen und Bildern, über ihre Überlagerungen mit neuen Bedeutungsschichten«11 offen, lassen sich dabei nicht auf den Prozess der Interpretation reduzieren, sondern vergegenwärtigen, mit Doris Bachmann-Medick, »kollektiv verankerte Deutungsinstanzen und tragen als solche dazu bei, handlungsorientierte und gefühlsausbildende ›Konzepte‹ zu entwickeln.«12 Dieser interpretive turn der Kulturanthropologie mit seinem semiotisch grundierten, zugleich aber transdisziplinär ausgeweiteten Verständnis von »Kultur als Text« formuliert unterschiedlichste Ansprüche an eine neue Art der Auseinandersetzung mit kulturellen/ethnologischen Beschreibungen, die häufig an der Grenze zu literaturwissenschaftlichen Fragestellungen angesiedelt sind. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Ethnologie und Geschichtswissenschaft gleichermaßen von einer narrativen Wende geprägt sind, die das Selbstverständnis beider Disziplinen nachhaltig aufwühlt, gleichzeitig jedoch neue Formen sowohl der historischen/ethnografischen Repräsentation wie auch ihrer Interpretation hervorgerufen hat.
Der New Historicism, allen voran Stephen Greenblatt mit seinem Konzept einer »Poetik der Kultur«, setzt unmittelbar am semiotischen Kulturbegriff der angloamerikanischen interpretativen Kulturanthropologie an und überträgt deren Ansätze auf literaturwissenschaftliche Perspektiven. In welches Verhältnis treten Literatur und Geschichte im Zeichen des New Historicism? Zunächst einmal scheint der