Der Glaube an einen festen Kern historischer Fakten, die objektiv und unabhängig von der Interpretation des Historikers bestehen, ist ein lächerlicher, aber nur schwer zu beseitigender Trugschluß.12
Carrs Plädoyer für einen soziologischen Zugang zur Geschichte, der zunächst die Figur des Historikers erforschen müsse und im Anschluss daran die von ihm ›konstruierten‹ Fakten, ist im Zuge einer streng poststrukturalistischen Geschichtswissenschaft unter Beschuss geraten, allen voran seine Differenzierung zwischen den keineswegs in Frage gestellten Fakten der Vergangenheit (facts from the past) und den historischen Fakten (historical facts) als Ergebnis unterschiedlicher Historisierungsprozesse.13
Tatsächlich bleibt es Barthes’ Essay vorbehalten, den zentralen logischen Widerspruch, den Carrs Thesen aufrufen, konsequent aufzulösen. Carr, der an den Tatsachen der Geschichte festhält und nur deren Historisierung wie historische Repräsentation zum Problem macht, bleibt die Antwort auf die daraus resultierende Frage schuldig, wie diese angeblichen Tatsachen jenseits ihrer Versprachlichung im Zuge historischer Rekonstruktion überhaupt zu denken sind. Eben hier setzt die Kritik Barthes’ an, der das historische Faktum als tautologisches Phänomen entlarvt, das »zugleich Zeichen und Beweis der Realität« sei.14 Die Historie ist demnach immer schon, nicht nur als historia rerum gestarum (wie bei Carr), sondern auch als Abfolge der res gestae mit Bedeutung aufgeladen, so sehr der Historiker auch darum bemüht ist, das Bedeutete aus seinem objektiven Diskurs zu verbannen und das Reale zu bezeichnen:
Der historische Diskurs folgt nicht dem Realen, er läßt dieses nur bedeuten, wiederholt unablässig das das ist geschehen, ohne daß diese Behauptung je etwas anderes zu sein vermöchte als die be-deutete Kehrseite der ganzen historischen Erzählung.15
Damit liegt dem historischen Diskurs nicht mehr das Reale selbst, sondern mit Roland Barthes lediglich der Effekt des Realen (l’effet de réel) zugrunde.16 Die historische Erzählung als die der fiktionalen entgegengesetzte kann mit Barthes nicht bestehen, solange sie sich darauf beruft, das Reale zu bezeichnen. Denn das Zeichen der Historie ist, nach Barthes, fortan »weniger das Reale als das Intelligible.«17 Erstaunlich bleibt: So bahnbrechend Barthes Thesen hinsichtlich einer Geschichtsauffassung scheinen, die zwischen den Fakten der Vergangenheit und dem narrativen Modus, diese Fakten zu vergegenwärtigen, deutlich unterscheidet – sein Essay erweist sich als deutlich weniger wirkungsmächtig als etwa die Texte Hayden Whites.18
3.2 Die Narrativität der Geschichte: Hayden White
Hayden Whites 1973 veröffentlichte Studie Metahistory etabliert die These einer ›Poetik der Geschichte‹ und problematisiert den Wert einer eigenständigen ›historischen‹ Erkenntnis, da diese erst im Medium der Sprache sichtbar werde und damit bereits einer historischen Rekonstruktion unterworfen sei, die nach White eine grundsätzlich fiktive ist. Whites Überlegungen zur genuinen Verwandtschaft von Literatur und Geschichtsschreibung – programmatisch erfasst in seiner These von dem »historischen Text als literarisches Kunstwerk«1 und textanalytisch in seiner Untersuchung narrativer Strukturen der Geschichtsschreibung umgesetzt2 – führten in der Folge zu einer Revision und Repositionierung geschichtswissenschaftlicher Methoden und Überzeugungen.
Wie Roland Barthes argumentiert Hayden White in Metahistory zunächst ausgehend von der Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts und dem hier etablierten Geschichtsbegriff, welchem er »eine Art bewußter methodischer Naivität« unterstellt.3 Im Unterschied zu Barthes allerdings konzentrieren sich Whites Ansätze vorrangig auf den narrativen Charakter der Geschichtsschreibung, während die den polyvalenten Geschichtsbegriff ernstnehmende strukturalistische Differenzierung zwischen Signifikant und Signifikat (und deren letztliche Negierung) eine untergeordnete Rolle spielt.4 Es bleibt auffällig, mit welchem Nachdruck White als Begründer, zumindest aber Hauptvertreter des linguistic turn in der Geschichtswissenschaft wahrgenommen und auch kritisiert wird, obgleich er selbst weder zum turn an sich noch zu (sprach-)philosophischen Vertretern desselben Bezug nimmt. Tatsächlich liegt, so hat Frank Ankersmit festgestellt, der Ausgangspunkt seiner Reflexionen weniger in der Sprachphilosophie als vielmehr in der Literaturtheorie.5 Entsprechend wird White, das belegt die Wirkungsgeschichte seiner Studien, nur in den Anfängen seiner Rezeption als Historiker wahrgenommen, dann jedoch verstärkt von der literaturwissenschaftlichen Forschung berücksichtigt.6 Der ungewöhnliche Erfolg Whites setzt nicht unmittelbar nach der Veröffentlichung von Metahistory ein, sondern erreicht seinen Höhepunkt erst in den 1980ern und frühen 1990er Jahren. Während die geschichtswissenschaftlichen Auseinandersetzungen früh erfolgen und primär auf Whites Analysen der Geschichtsschreiber im 19. Jahrhundert eingehen, interessiert sich die Literaturwissenschaft auch gegenwärtig primär für Whites methodische Überlegungen, die er in seinem Einleitungskapitel zur »Poetik der Geschichte« und später in seinem Aufsatz Der historische Text als literarisches Kunstwerk programmatisch entwickelt. Insgesamt wird deutlich, dass mit der Rezeption der Thesen Whites, die in eine kontrovers geführte Diskussion um die Fiktionalität geschichtlicher Darstellungsweisen und ihrer poetischen modi resultiert, der linguistic turn endgültig zum narrative turn, wenn nicht gar zur »literarischen Wende«7 ausgeweitet wird.
In der Einleitung zu seinem Hauptwerk Metahistory formuliert White zunächst eine Prämisse, die an jene Positionen anzuschließen scheint, die sich seit Entstehung der modernen Geschichtsschreibung immer wieder selbstreflexiv mit der vermeintlichen Objektivität der Geschichtschreibung auseinandergesetzt haben:
Es ist öfter gesagt worden, das Ziel des Historikers sei es, die Vergangenheit zu erklären, indem er die »Geschichten«, die in den Chroniken verborgen liegen, »findet«, »erkennt« oder »entdeckt«, und der Unterschied zwischen »Historie« und »Fiktion« bestehe darin, daß der Historiker seine Geschichten »finde«, während z.B. der Romancier die seinen »erfinde«. Diese Vorstellung verschleiert jedoch, in welchem Ausmaß die »Erfindung« auch die Arbeit des Historikers prägt.8
Whites hier geäußerte Grundüberzeugung von der genuinen Verwandtschaft zwischen Literatur und Geschichtsschreibung aufgrund der sie einenden narrativen Verfahrensweisen erklärt noch nicht die zum Teil heftigen Vorwürfe, mit denen die Geschichtswissenschaft, allen voran die amerikanische, zunächst auf seine Thesen reagiert hat.9 Tatsächlich greifen Whites Thesen auf die Einsicht in die Fiktionalität historischer Darstellungen zurück, wie sie etwa in Deutschland in den 1970er Jahren (und damit lange vor der Übersetzung der Werke Whites ins Deutsche) von Historikern, insbesondere aber von Literaturwissenschaftlern vertreten wird. Programmatisch dokumentiert diese Positionen der von Reinhart Koselleck, Heinrich Lutz und Jörn Rüsen herausgegebene Band zu Formen der Geschichtsschreibung, der auf eine Tagungssequenz in den Jahren 1979/80 zurückgeht.10 Hans Robert Jauss etwa verabschiedet hier, bemerkenswerterweise mit Verweis auf die Positionen Reinhart Kosellecks und nicht etwa Hayden Whites, das Ideal eines »naiven historischen Realismus« und fordert die Historiker auf, die an sämtlichen historiografischen Prozessen beteiligten Fiktionalisierungsverfahren ernst zu nehmen. Eine Trennung zwischen res factae und res fictae sei, so Jauss, nicht möglich, sondern allenfalls Resultat eines unhaltbaren Vorurteils:
Dieses Vorurteil hat die hermeneutische Reflexion mit der Einsicht aufgelöst, daß die res factae kein Erstes sind, sondern als ergebnishafte Tatsachen schon in den bedeutungsstiftenden Akten ihrer Konstitution elementare Formen der Anschauung und der Darstellung geschichtlicher Erfahrung voraussetzen. Deren fiktionalen Status zu klären, sind historische und literarische Hermeneutik in diesem Kolloquium gemeinsam aufgerufen.11
Es lässt sich also davon ausgehen, dass die deutschsprachige ›Hochphase‹ der White-Rezeption in den 1980er und 1990er Jahren nicht dadurch zu erklären ist, dass der Historiker einen Angriff auf die Faktizität historischer Darstellung wagt, wie er vorher nicht