The question then was how did so much life get into the textual traces? Shakespeare’s plays, it seemed, had precipitated out of a sublime confrontation between a total artist and a totalizing society. […] The result of this confrontation between total artist and totalizing society was a set of unique, inexhaustible, and supremely powerful works of art.14
Hier bekundet Greenblatt zwar sein Interesse an der Geschichtlichkeit der Shakespeare’schen Texte, dennoch: In deutlicher Abgrenzung vom engeren, positivistisch geprägten Begriff des Historismus, der die historischen Fakten als Referenzbereich der Geschichtsschreibung voraussetzt, begreift Greenblatt den Geschichtsbegriff in seiner Textualität, der, ebenso wie der literarische Text, einer Interpretation bedarf und durch die Interpretation erst definiert wird. Greenblatt verortet den literarischen Text in einem Feld von »Resonanztexten«, die nicht einfach den historischen Hintergrund im Sinne sozialgeschichtlicher oder positivistischer Ansätze abbilden, sondern die ihrerseits ein Netz an intertextuellen Bezügen bilden, das in ein reziprokes Verhältnis mit literarischen Texten tritt:
Jeder dieser Texte wird als Brennpunkt konvergierender Kraftlinien der Kultur des 16. Jahrhunderts gesehen; ihre Bedeutung für uns liegt nicht darin, daß wir durch sie hindurch auf ihnen zugrundeliegende und vorausgehende historische Prinzipien sehen können, sondern vielmehr darin, daß wir das Wechselspiel zwischen ihren symbolischen Strukturen und denen, die in den Viten ihrer Autoren und der umfassenderen gesellschaftlichen Welt wahrnehmbar sind, interpretieren können als Konstituierung eines einzigen komplexen Selbstbildungsprozesses; denn über eine solche Interpretation kommen wir einem Verständnis näher, wie literarische und gesellschaftliche Identitäten in dieser Kultur geformt wurden.15
So werden die zur Lektüre literarischer Texte herangezogenen historischen Quellen oder andere Texte gemeinsam mit dem literarischen Text einem close reading unterworfen, das die intertextuellen Bezüge zwischen beiden aufdecken soll – ausgehend von dem Intertextualitätsbegriff Julia Kristevas, der den Text, über darin bewusst angelegte Verweise auf andere Texte hinaus, grundsätzlich als »Mosaik von Zitaten, […] Absorption und Transformation eines anderen Textes« versteht.16
In einem solchen Verfahren scheinen die Grenzen von Literatur und Geschichte, von literarischem Text und historischer Quelle erneut zu verwischen, gar bis zur Ununterscheidbarkeit ineinander aufzugehen. Greenblatt selbst ist diese fehlende Trennschärfe bewusst, die insbesondere die spezifischen Merkmale des literarischen Textes einzuebnen droht. Daher beharrt er auf den Unterschieden zwischen literarischem Text und historischen bzw. kulturellem Kontext, wenn er an »den Implikationen künstlerischer Darstellung als einer besonderen menschlichen Aktivität«17 festhält, wobei zunächst unklar bleibt, was sich hinter dem Besonderen dieser »menschlichen Aktivität« verbirgt. Als Literaturwissenschaftler zeigt Greenblatt sich bemüht, an einer wenngleich eingeschränkten Autonomie des literarischen Texts festzuhalten, indem er einen Literaturbegriff formuliert, der Prämisse jeder Lektüre im Zeichen des New Historicism darstellen solle:
Literatur funktioniert innerhalb dieses Systems auf drei miteinander eng verbundene Weisen: als Manifestation des konkreten Verhaltens ihres jeweiligen Autors, als eigenständiger Ausdruck der verhaltensformenden Codes und als Reflexion auf diese Codes.18
Diese drei Funktionen müssen, so Greenblatt, unter allen Umständen gleichberechtigt ernst genommen werden, um nicht in einen autorfokussierten Biografismus, in sozial- bzw. ideologiegeschichtliche Ansätze oder auch poststrukturalistische Lektüren zu verfallen, die jeglichen Rekurs auf eine außersprachliche Einbettung des literarischen Textes verwerfen. Literatur rekonstruiert im Kontext des New Historicism nicht einfach den ihr zugrunde liegenden historischen Hintergrund, sondern konstituiert ihn in einer dem Medium eigenen Weise neu:
Es geschieht etwas mit Dingen, Überzeugungen und Praktiken, wenn sie in literarischen Texten dargestellt, neu imaginiert und inszeniert werden, etwas oft Unvorhersehbares und Beunruhigendes. Dieses »etwas« verweist sowohl auf die Macht der Kunst als auch auf das Eingebettetsein der Kultur in die historischen Kontingenzen.19
Dass die praktische Umsetzung dieses von Greenblatt formulierten Anspruches mitunter nicht leicht fällt, dokumentieren einige jener Interpretationen, die sich der neuhistoristischen Lektüre verpflichten – etwa Sabine Schütlings im Zeichen des New Historicism druchgeführte Auseinandersetzung mit »viktorianischen Verhandlungen urbaner Prostitution«.20 In Schütlings Studie wird zwischen den von ihr untersuchten literarischen Texten, theologischen, sozialwissenschaftlichen, medizinischen und anderen Studien nicht mehr differenziert, sondern diese werden in ihrer gemeinsamen Teilhabe an einer gesellschaftlichen Inszenierung der Prostituierten begriffen, die auf eine patriarchal bestimmte Machtausübung verweist Inwiefern Literatur innerhalb des zeitgenössischen Diskurses über Prostitution die mit Greenblatt »verhaltensformenden Codes« nicht nur bestätigt, sondern möglicherweise bereits kritisch reflektiert, kann der Beitrag nicht beantworten. Greenblatt selbst bestätigt spätestens mit seiner 2004 auf Deutsch veröffentlichten Shakespeare-Biografie Will in der Welt, wie schwer sich der von ihm propagierte New Historicism als Lektürepraxis (literarischer und nicht-literarischer Texte) umsetzen lässt, ohne entweder in eine biografistische Werkdeutung oder psychologisierende und mitunter spekulative Deutungsmuster zu verfallen. Mit einem close reading des literarischen Werkes und der historischen Quellen oder einem Ansatz, der intertextuelle, reziproke Verhandlungen zwischen beiden ernst nimmt, hat Greenblatts eigene Zielsetzung nur wenig zu tun:
Es [Das Buch, S.C.] verfolgt das Ziel, den wirklichen Menschen zu entdecken, der das wichtigste Korpus fiktionaler Literatur geschrieben hat, das in den letzten 1000 Jahren entstanden ist. Oder vielmehr sucht es, da der wirkliche Mensch wohldokumentiert und aktenkundig ist, die schattenhaften Wege zu beschreiten, die von dem Leben, das er führte, zu der Literatur hinleiten, die er schuf.21
Mit der Absicht, den »wirklichen Menschen« Shakespeare zu entdecken, fällt Greenblatt ebenso wie mit der Überzeugung, dass dieser »wohldokumentiert und aktenkundig« sei, hinter die Prämissen seines eigenen Ansatzes zurück, der einen zuverlässigen historischen Referenzbereich, mit Hayden White ebenso wie mit Clifford Geertz, in Frage stellt. Das Aufdecken intertextueller Bezüge gerinnt hier zu einer spekulativen Interpretation, die weniger ein sorgfältiges close reading als vielmehr die eigene Vorstellungskraft bemüht: »Und damit wir verstehen, wie Shakespeare seine Phantasie gebrauchte, um sein Leben in seine Kunst zu verwandeln, ist es wichtig, daß wir von unserer eigenen Phantasie Gebrauch machen.«22
Mit seinem Vorhaben, Shakespeares Werk aus Shakespeares Leben zu erklären, tappt der ›Erfinder‹ des New Historicism in die durch seinen Ansatz selbst gestellten Fallen – und hat wohl deshalb die Literaturkritik in ihrem Urteil über Greenblatts Studie zu ungewöhnlich harschen Tönen verleitet: »Derart grob ist der notorische Zirkelschluss des Biographismus wohl lange nicht mehr exerziert worden.«23
Insgesamt lässt sich feststellen, dass der New Historicism dem Verhältnis von Literatur und Geschichte nur bedingt Neues hinzuzufügen hat, da er auf eine differenzierte Begriffsbestimmung beider Diskurse sowie jener Textsorten, die sie konstituieren, verzichtet und damit ähnliche Kritik herausfordert wie die Ansätze Hayden Whites, etwa die fehlende Berücksichtigung der genuin unterschiedlichen Ansprüche literarischer und historischer Texte, was ihre Wissenschaftsspezifik, ihren implizierten Wahrheitsanspruch und die unterschiedlichen Bedingungen ihrer Rezeption und Produktion betrifft.24 Eine Marginalisierung des Literaturbegriffes wie auch des Geschichtsbegriffes kann im Rahmen neohistorischer Lektüren nicht ausbleiben, da der Einzeltext, etwa der literarische, gegenüber der Textualität der gesamten Kultur bzw. jeglicher kultureller Repräsentation an Relevanz verliert. Diesen Verlust des ›spezifisch Literarischen‹ als Folgeerscheinung des New Historicism sowie im erweiterten Sinne der Medienkulturwissenschaft kennzeichnet Oliver Jahraus