Jeder neohistoristische Text gibt in seiner rhetorisch strukturierten Verknüpfung diskursiver Zusammenhänge zugleich eine Grammatik mit, eine Grammatik für jenes Sprachspiel, das man auf dem schwankenden Boden poststrukturalistischer Theorie noch und jeweils als historisches, als »Geschichte« bezeichnen kann.26
Tatsächlich aber unterliegt der Geschichtsbegriff hier bereits einer Überlagerung durch jenen der Kultur. Die eigentliche Innovation des New Historicism zeigt sich gerade dort, wo seine Ansätze zu einer neuen Bestimmung des Kulturbegriffs einladen. Entsprechend ersetzt Stephen Greenblatt die Bezeichnung New Historicsm in seinen späteren Schriften durch jenen Begriff, welchen er zu Beginn schon favorisierte: den einer »Poetik der Kultur«.27
In fast sämtlichen seiner Schriften thematisiert Greenblatt weniger das historische Subjekt als das kulturell geprägte bzw. konstituierte: Indem Greenblatt Kultur als »Ensemble von Überzeugungen und Praktiken« definiert, die als »eine umfassende Kontrolltechnologie, eine Reihe von Beschränkungen, in denen sich das Sozialverhalten zu bewegen hat, ein Repertoire von Modellen, mit denen die Individuen konform gehen müssen« fungiere,28 lenkt er den Blick auf die sinnkonstituierende, performative Dimension von Kultur. In Anlehnung an den anthropologisch begründeten Begriff der Kultur Clifford Geertz’ als »selbstgesponnenes Bedeutungsgewebe« begreift Greenblatt Kultur als Form einer Machtausübung, die, indem sie normierte Verhaltensweisen vorführt, Einschluss- und Ausschlussmechanismen nach sich zieht. Für die Literaturwissenschaft (wie auch die Geschichtswissenschaft) bedeutet diese Einsicht, ihre Texte als »wichtiges Vehikel der Übertragung von Kultur« aufzufassen und jene Wege zu untersuchen, »auf denen die Verhaltensrollen kommuniziert und von Generation zu Generation weitergegeben werden, nach denen Männer und Frauen ihr Leben strukturieren sollen.«29 Hier erkennt Greenblatt die Herausforderung einer interpretativen Methode, an der Geschichts- wie Literaturwissenschaft gleichermaßen beteiligt sind und fordert ein Ende der konsequenten Trennung des Geschichtsstudiums vom Literaturstudium. Tatsächlich finden, mit Greenblatt, Geschichts- und Literaturbegriff im Kontext einer Poetik der Kultur neu zusammen und
entwickeln Historiker in immer stärkerem Maße ein Gespür für die symbolischen Dimensionen gesellschaftlicher Praxis, während sich die Literaturwissenschaftler in den letzten Jahren mit wachsendem Interesse den gesellschaftlichen und historischen Dimensionen symbolischer Praxis zuwenden.30
Die problematischen Konsequenzen dieser Annäherung beider Disziplinen und der von ihnen produzierten Texte im Kontext eines neu formulierten Kulturbegriffes reflektiert Greenblatt kaum: Tatsächlich wird mit der Fokussierung auf das subversive Potenzial von ›kulturschaffenden‹ Texten die Autonomie des literarischen Textes weniger beschnitten als das wissenschaftliche wie methodologische Selbstverständnis der Historiografie, der es nicht nur um Fragen der historischen Repräsentation, sondern immer auch um das Erkenntnisinteresse einer historischen Forschung gehen muss.
Die Spezifik historiografischen Schreibens im Verbund mit einer historischen Forschung bleibt durch den New Historicism, gerade weil er gleichberechtigt Spuren unterschiedlichster Diskurse kreuzt, im Grunde unberücksichtigt – auch er unterstreicht in erster Linie die in der Folge des linguistic turn sichtbar gewordene Unsicherheit der Geschichte. Seine zukunftsweisende Fortsetzung findet der Ansatz allerdings in der in den 1990er Jahren ausgerufenen anthropologischen, später auch kulturwissenschaftlichen Wende der Geisteswissenschaften, die mit dem New Historicism eingeleitet wird. Denn mit dem neuen Kulturbegriff, der den diachronen Faden der großen historischen Metanarration durch die Netzstruktur synchron verlaufender Diskursfäden ersetzt, geraten zum einen die unterschiedlichen kulturellen Repräsentationsmechanismen, zum anderen die damit verbundenen normativen Prozesse und die von ihnen erzeugten ›Ränder‹ der Geschichte in den Blick. Eben hier liegen etwa die Ansätze der Genderforschung verborgen, die nach den kulturellen, historischen wie politischen Repräsentationsformen der Geschlechter fragt und deren patriarchal geprägte Steuerung zu dekonstruieren sucht. Insbesondere aber leitet der Kulturbegriff des New Historicism zu den postkolonialen Perspektiven über, die (wie Edward Said in seinem Gründungstext Orientalism)31 den Blick auf die eurozentrische Konstruktion hierarchisch strukturierter Binäroppositionen von Fremdem und Eigenem (Prozesse des so genannten ›Otherings‹) richten und anschließend nach Wegen suchen, diese Differenzstruktur und das in ihr gespiegelte hegemoniale Mächte- und Kräfteverhältnis durch den Entwurf neuer, hybrider Ordnungen zu unterlaufen.32
Dass es bei dieser neuen Fokussierung auf kulturelle Repräsentationsprozesse keineswegs um eine Profilierung der Kulturgeschichte als einer neuen »großen Erzählung«33 der Geschichtswissenschaften geht, sondern im Gegenteil um ein Festhalten am poststrukturalistischen Abschied von der Meistererzählung, verdeutlicht Stephen Greenblatts Veröffentlichung Wunderbare Besitztümer aus den 1990er Jahren. Hier begibt sich Greenblatt auf die Spuren der Reisenden und Entdecker und versucht, deren »Erfindung des Fremden« nachzuzeichnen. Als literarische Gattung scheint ihm die Anekdote hilfreich zu sein, die er als Gegenbegriff zum »grand récit einer totalisierenden, integrativen, progressiven Geschichtsschreibung, die weiß wohin sie will«, versteht.34 Anekdoten, die mit Greenblatt die Welt nicht »in würdevoller und harmonischer Ordnung« präsentieren und »eher mit dem Rand verbunden sind als mit dem unbeweglichen und lähmenden Zentrum«, avancieren hier zum wichtigsten Medium »zur Aufzeichnung des Unerwarteten und daher auch zur Beschreibung der Begegnung mit der Differenz«.35 Die Anekdoten werden damit zu Mikrogeschichten der Geschichtsschreibung und als solche einer kulturanthropologischen Lektüre unterworfen, die sie als »wichtigste[] Erzeugnisse[] der Repräsentationstechnologie einer Kultur« begreift.36 Damit ist Greenblatt bei einer neohistoristischen Lektürepraxis angelangt, die den Bogen von den ethnologischen Befunden Geertz’ zu den postkolonialen Theorien Homi K. Bhabas spannt. Die im Kontext des linguistic turn und des New Historicism konstatierte Unzuverlässigkeit der Geschichte aufgrund ihrer sprachlichen Verfasstheit wird hier um einen weiteren Aspekt bereichert. Greenblatt weist darauf hin, dass sich hinter dem Text der Geschichte stets kulturelle Diskursformationen verbergen, denen ein genuin eurozentrischer Blick eingeschrieben ist – ein Blick, der letztlich weniger über die verrät, die er zu beschreiben sucht, als vielmehr über diejenigen, die für die Beschreibung verantwortlich zeichnen:
Es geht mir in den folgenden Kapiteln weniger darum, zwischen wahren und falschen Darstellungen zu unterscheiden, als um eine Untersuchung der Repräsentationspraktiken als solcher, welche die Europäer nach Amerika mitnahmen, um ihren Landsleuten daheim zu beschreiben, was sie dort sahen und taten. Ich habe mich davor gehütet, die geschriebenen und gezeichneteten Repräsentationen der Europäer als genaue und verläßliche Dokumente über Land und Leute der Neuen Welt anzusehen. […] Fest steht nur, daß die europäischen Darstellungen der Neuen Welt etwas über die europäische Repräsentationspraxis aussagen.37
Mit diesem Interpretationsansatz landet Greenblatt bei einer postkolonialen Lektüre im Sinne Saids – und damit bei einer kritischen Auseinandersetzung mit historischen wie fiktionalen Texten, welche die Loslösung des Signifikats vom Signifikanten nicht mehr allein semiotisch begründet, sondern als Folge kultureller Einschreibungs- wie Ausgrenzungsprozesse begreift, die Form und Inhalt der Texte prägen. Eine solche Perspektive auf Texte in ihrer Teilhabe an einer fächerübergreifenden Kulturgeschichtsschreibung führt erneut zu Zweifeln an der Zuverlässigkeit historischer bzw. historiografischer Narration – deren Referenzebene, darin stimmen Foucault, Said wie Greenblatt überein, keine eindeutig zu definierende historische Wirklichkeit und Wahrheit bezeichnet, sondern politische wie gesellschaftliche Machtverhältnisse, die ihren hegemonialen Ausdruck auch in den Texten finden.
So gewinnbringend, wie sich die verschiedenen Ansätze des cultural turns für die Literatur- wie Kulturwissenschaft der letzten Jahrzehnte daher erweisen – die mit dem linguistic turn einsetzende Frage nach der historischen Referenzialität radikalisieren sie, gerade weil, wie der Historiker Lucian Hölscher zu Recht anmerkt, sie nun von einer methodischen zu einer ethischen Frage avanciert.38 Um den Begriff der Wirklichkeit als zuverlässigen Referenten historischen Erzählens ist es am Ende des 20. Jahrhunderts schlecht bestellt. Mit