Reduziertes Faktorenmodell für die Textbildung (nach Funk-Kolleg Sprache 1973: Bd. 1, 82)
Die Ausdrücke Lexem oder gar Lex kommen im Funk-Kolleg nicht vor, stattdessen spricht man dort von Formativen. Auch für Sätze fehlt eine entsprechende Parallele; sie werden als aus Konstituenten aufgebaut verstanden. Somit sind die Analogien auf den oberen Rängen doch nicht besonders konsequent durchgeführt. Auch kommt Textem außerhalb der zitierten Stelle nur noch einmal vor, und zwar in einem Sprachverhaltensmodell. Dieses sehr komplexe Schema setzt (im Rahmen der Studien zur gesprochenen Sprache in der Schule Hugo Stegers) Redekonstellationen und Textexemplare (statt wie früher Texte) in Beziehung (vgl. ebd.: Bd. 2, 196); weitere Erläuterungen zum Verhältnis von Text(exemplar) und Textem finden sich aber nicht.
So ist es eigentlich nicht erstaunlich, dass Textem nicht als gut etablierter Begriff gelten kann. Er erscheint zwar in manchen Fachwörterbüchern (vgl. dazu genauer Kolde 1999), u. a. bei Bußmann. Sogar Felder (2016: 34) benutzt ihn einmal; insgesamt bleibt er aber ebenso selten wie unklar.
Was die meisten davon abhält, ihn überhaupt einzusetzen, erklärt sich natürlich relativ einfach: Schon bei Sätzen rechnet man eigentlich nicht mit konkreten, d. h. im Wortlaut festgelegten Strukturen, die kognitiv gespeichert sind und in der Parole nur materialisiert werden, sondern mit viel abstrakteren Strukturen, nämlich allenfalls Satzschemata, die in Äußerungen gewissermaßen erst lexikalisch und grammatisch ‚gefüllt‘ werden. Erst recht ist es bei Texten die Ausnahme, dass sie bei der materiellen Realisierung direkt aus dem Gedächtnis abgerufen werden, dort also schon gespeichert sind. Für Morpheme gilt dagegen genau das. Diese sind mit ihrer Signifiant-Seite gewiss nicht angeboren (wie man es für syntaktische Kategorien ja teilweise unterstellt), sondern müssen einzeln gelernt werden. Sie können dann allerdings auch nach abstrakten Regeln in neue Konstruktionen eingehen, d. h. in solche, die nicht schon im Lexikon überliefert sind. So ergibt sich die ‚traditionelle Arbeitsteilung‘ zwischen Lexikon – mit Einheiten, die auch über ein Lautbild im Sinne de Saussures verfügen – und Syntax, für die das nicht gilt. Die Parallelisierung von Morphem und Textem, so könnte man den Einwand zusammenfassend formulieren, unterstellt eine Vergleichbarkeit, die schlichtweg nicht gegeben ist. Daher kann es auf der Text- genau wie auf der Satzebene nur darauf ankommen, nach abstrakteren Größen, nämlich nach Satz- bzw. Text-Bildungsregeln, zu suchen, statt zu unterstellen, dass bereits ‚kodierte‘ komplexe Einheiten im Gedächtnis gespeichert sind. Anders gesagt: Morpheme gelten als virtuelle Einheiten, die immer wieder neu realisiert werden, Sätze und Texte dagegen als erst im Äußerungsakt jeweils neu erzeugte.
Diese Vorstellung ist sehr verbreitet, entspricht aber m. E. einer Art denkstilbedingten Blindheit (vgl. Fleck 1980 und dazu Adamzik 2018b: Kap. 5.2.) gegenüber der sehr wohl möglichen Parallelisierung. Bevor dies in Kapitel 4 genauer ausgeführt wird, sollen noch einige frühe textlinguistische Ansätze vorgestellt werden, die der Vorstellung von Texten als virtuellen Einheiten am nächsten kommen (vgl. dazu ausführlicher Adamzik 2015: Kap. 2 und Adamzik 2016: Kap. 2.5.3.).
Besonders darum bemüht, die Parallelen wirklich konsequent durchzuführen, ist Walter A. Koch (1969, 1973), der zu diesem Zweck einen eigenen Begriffsapparat vorschlägt: Der Größe Wort entspricht darin ungefähr Logem, dem Satz ungefähr Syntaktem. Syntakteme sollen aus Subjekt und Prädikat bestehen, Texteme aus Topik, Thema und Komment – es handelt sich also nicht wie bei der ‚Kodierung‘ im Funk-Kolleg um eine spezifische Folge von Sprachzeichen, sondern um hochabstrakte Strukturen und eine Analyse von oben nach unten.
Roland Harweg geht dagegen umgekehrt vor und betrachtet die pronominale Verkettung aufeinanderfolgender Sätze. Er benutzt nicht den Ausdruck Textem, sondern unterscheidet etische von emischen Texten. Dies entspricht einer gewollten „Abkehr von der Performanz- und […] Hinwendung zur Kompetenzorientiertheit“ (Harweg 1968, 21979: V), und zwar in dem Sinne, dass etische Texte dem Sprachgebrauch, nämlich real vorkommenden Einheiten, gleichzusetzen sind, während es sich bei emischen Texten um wohlgeformte Satzfolgen handeln soll, die sich durch ununterbrochene pronominale Verkettung konstituieren. In diesen erkennt Harweg „ein textgrammatisches Ideal, ein Ideal, das die textuelle Wirklichkeit, die aktuell vorliegenden Texte, auch solche von sogenannten guten Autoren, nur in den seltensten Fällen erreicht“ (Harweg 1975: 377). Natürliche Texte erscheinen hier also nicht nur als Performanzphänomene, sondern als ‚schlechte‘, nämlich normalerweise (!) nicht regelkonforme Sprachwirklichkeit.
Harwegs Definition des emischen Textes und die damit verbundene Neudefinition der Kategorie Pronomen wurden bald zurückgewiesen.1 Dennoch haben seine Arbeiten einen bedeutenden Einfluss gehabt, da er in sehr systematischer Weise Nominalgruppen danach differenziert, in welche Wiederaufnahme-Relationen sie eingehen können. Solche Gliederungen bilden noch immer den Kern der Behandlung der Kohäsionsmittel (vgl. dazu weiter Adamzik 2016: Kap. 7.1.).
Noch weniger Einfluss als Harwegs terminologische Neologismen haben diejenigen von Koch gehabt. Die von ihm nur angedeutete Top-Down-Analyse stellt jedoch die zweite wesentliche Methode in der Textlinguistik dar. Besonders bekannt sind die Vorschläge von Teun A. van Dijk, der zwischen Makrostrukturen und Superstrukturen differenziert. Die ersten operieren auf Propositionen, von denen in einem rekursiven Prozess mehrere zu Makropropositionen zusammengefasst werden, bis sich auf der obersten Ebene eine Kurzfassung des Textes ergibt. Die Grundlage bilden also konkrete Texte und das Vorgehen entspricht dem Bottom-Up-Modell. Superstrukturen stellen dagegen Schemata für den Grobaufbau von Textsorten dar. Allerdings stehen dabei nicht hochstandardisierte Kleinformen (Wetterbericht usw.) im Vordergrund, sondern potenziell sehr komplexe Einheiten – besonders häufig zitiert findet sich van Dijks Schema zu Erzähltexten (vgl. van Dijk 1980: 142).
Die Superstrukturen van Dijks sind fast so abstrakt wie das Textem von Koch, der Inhalt ist nämlich überhaupt nicht spezifiziert. Makrostrukturen sind dagegen am Inhalt orientiert, sollen diesen zusammenfassen; daher umfassen sie auch die besonders wesentlichen lexikalischen Elemente bzw. Themenwörter. Bei van Dijk erscheinen Makrostrukturen als Ergebnis wissenschaftlicher Analyseverfahren. Er unterstellt allerdings, dass auch gewöhnliche Sprachteilhaber diese intuitiv anwenden, wenn sie Texte verarbeiten:
„Wir müssen uns Einsicht verschaffen in das sehr wesentliche Vermögen des Sprachgebrauchers, das ihm ermöglicht, auch bei sehr langen und komplizierten Texten Fragen zu beantworten wie ‚Wovon war die Rede?‘, ,Was war der Gegenstand des Gesprächs?‘ u. ä. Ein Sprachgebraucher kann das auch dann, wenn Thema oder Gegenstand selbst als ganzes nicht explizit im Text erwähnt werden. Er muß also das Thema aus dem Text ableiten.“ (van Dijk 1980: 45; Hervorhebung im Orig.)
Nun ist es allerdings gar nicht immer nötig, Themen ‚abzuleiten‘, weil bestimmte Themen, Motive, Stoffe, Topoi, … zum kollektiven Gedächtnis gehören und also immer wieder reproduziert werden, so dass man sie nur wiedererkennen muss. Das ist besonders an mündlich überlieferter (Volks-)Literatur, speziell Märchen, gezeigt worden. Solche Forschungen greift nun Koch (1971) in einem weiteren Aufsatz auf und erörtert an diversen Beispielen die Frage, wann es sinnvoll ist, hier von einem Textem und verschiedenen Allotexten zu sprechen und wann es angemessener erscheint, mit verschiedenen Textemen zu rechnen, die ja (im Sinne von Archetypen) auch unabhängig voneinander in verschiedenen Kulturen erscheinen können.
In vielen Fällen unterliegt es allerdings nicht dem geringsten Zweifel, dass es sich um Texte handelt, die überliefert werden, möglicherweise über Jahrhunderte oder gar Jahrtausende. Wenn sie über einen sehr langen Zeitraum überliefert werden, erscheint ‚derselbe‘ Text notwendigerweise in verschiedenen Sprachstufen. Ferner ist erwartbar, dass er in verschiedenen Varietäten vorliegt, in oral geprägten Kulturen insbesondere regionalen, aber z. B. auch in konfessionellen, wenn man etwa an die Bibel als besonders variantenreich überlieferten