Eine wohlverstandene Pragmatik sollte jedoch Texte nicht als regelgemäße Folgen von Sätzen betrachten, sondern als Vorkommen des Sprachgebrauchs. Diese stellen in erster Linie in sich strukturierte Ganzheiten dar, und wenn sie als solche beschrieben werden sollen, sind auch alle getroffenen Wahlen relevant, auf allen Ebenen. Gegen Regeln kann man im Übrigen auch mehr oder weniger massiv verstoßen. Bei literarischen Texten gilt dies als selbstverständlich, und diese sind wohl auch der dankbarste Gegenstand für die Untersuchung der gezielten Auswahl sprachlicher Varianten. Dabei kommt es bekanntlich gerade nicht auf die möglichst konventionelle, effiziente oder gar klare Signalisierung der kommunikativen Funktion des Textes an. Der Umstand, dass weder die Charakterisierung des kommunikativen Handlungszwecks noch die Untersuchung der Kohäsionsmittel ausreichen, um anspruchsvollen Texten gerecht zu werden, hat allerdings selten zur Infragestellung oder Revision der Grundannahmen geführt, sondern zum (weitgehenden) Ausschluss literarischer Texte aus dem selbst gewählten Gegenstandsbereich. Privilegiert sind in der kommunikativ orientierten Textlinguistik jedenfalls eindeutig die Gebrauchstexte.
Festzuhalten ist, dass Spielarten der Textlinguistik, die nur an konventionalisierten oder gar routinisierten Formen des Sprachgebrauchs interessiert sind, selbst einer systemlinguistischen Ausrichtung zugeordnet werden müssen. Insofern trifft auch sie, um die Übersicht über Einwände gegen die Systemlinguistik abzuschließen, der zentrale Vorwurf, den Variationslinguisten vorbringen. Die Systemlinguistik werde nämlich der Heterogenität der Sprache nicht gerecht. Diese Ausblendung tritt wiederum in verschiedenen Arten auf, von denen die folgenden hervorgehoben seien:
Im Extremfall wird Heterogenität tatsächlich abgestritten. Das scheint mir das Charakteristische an dem generativistischen Topos zu sein, es sei erklärungsbedürftig, wieso alle Kinder einer Sprachgemeinschaft in relativ kurzer Zeit ‚dieselbe‘ Grammatik erwürben, obwohl sie ganz unterschiedlicher Spracherfahrung ausgesetzt seien. Dass alle Kinder zur selben Grammatik kommen, wird im Allgemeinen präsupponiert, und nicht etwa behauptet – denn in diesem Fall bestünde ja die Gefahr, dass jemand nachfragt, wie sich das überhaupt empirisch belegen lassen sollte.
Völlig legitim ist es gegenüber einer solchen sprachtheoretisch (bzw. ideologisch) fundierten Annahme, die Heterogenität als für die eigene Fragestellung irrelevant auszuklammern. Das dürfte die häufigste Strategie sein. Ihr ist de Saussure mit seiner Als-Ob-Idee gefolgt, wir hätten alle dasselbe Wörterbuch im Kopf, und auch das Konstrukt des idealen Sprechers/Hörers lässt sich auf diese Weise rechtfertigen. Aber auch wer z. B. Textmuster zu Unterrichtszwecken beschreiben will, tut wahrscheinlich (zumindest auf elementaren Stufen) gut daran, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren und die reale Heterogenität zunächst zu vernachlässigen. Mit der Ausblendung der Heterogenität realen Sprachgebrauchs ist also nicht notwendig eine bestimmte sprachtheoretische Position verbunden, eine solche kann auch aus rein pragmatischen Gründen erfolgen.
Interessanter sind freilich Kontroversen, die mit grundlegend unterschiedlichen Vorstellungen vom Funktionieren der Sprachen verbunden sind. Wie es nun in der Textlinguistik auch systemlinguistische Ausrichtungen gibt, so finden sich in der Variationslinguistik Strömungen, die dem Homogenitätspostulat verpflichtet bleiben. Dazu gehört insbesondere die Auffassung, die Gesamtsprache sei heterogen, weil sie eine Menge von Varietäten (auch Subsprachen genannt) umfasse. Diese könne man allerdings als in sich (weitgehend) homogen konzipieren; in einer anderen Fassung: die Heterogenität sei (sehr) geordnet. Es kehren bei diesem Ansatz dann dieselben Strategien wieder wie bei der elementaren Homogenitätsunterstellung: Äußerungen, die dem rekonstruierten (Sub-)System widersprechen, können als Performanzfehler eingeordnet oder Individuen zugeschrieben werden, die die Varietät (noch) nicht voll beherrschen. Dies geht dann leicht mit einer mehr oder weniger ausgeprägt normativen Haltung einher, speziell in Bezug auf die Standardvarietät, die sich ja dadurch definiert, das Variantenspektrum präskriptiv zu beschneiden.
Sehr eindeutig zu einer am Homogenitätspostulat ausgerichteten Sicht bekennt sich Ekkehard Felder:
„Das Erkenntnisinteresse der Varietätenlinguistik […] richtet sich auf die Abgrenzung der Subsprachen als Ganzes oder ‚Sprachgebrauchssysteme‘ (Dittmar 1997: 175) aus sprachstruktureller Sicht unter Berücksichtigung außersprachlicher Faktoren. Die Varietätenlinguistik ist also erkenntnistheoretisch vorrangig auf die langue-Ebene fixiert und betrachtet die parole-Ebene [sic] vor allem zum Zwecke der exemplarischen ‚Fütterung‘ der kontextabstrahierten Subsprachen (mit dem Erkenntnisinteresse der nachvollziehbaren Systemgenerierung).“ (Felder 2016: 44f.; Hervorhebung im Orig.)
Sehr entschieden spricht sich demgegenüber Jürgen Erich Schmidt gegen die auf Varietäten übertragene Homogenitätsannahme aus:
„[…] das Konzept einer homogenen Varietät [erweist sich] als empirisch leer und theoretisch als falsch. […] Den Gegenstand heterogene Gesamtsprache als Komplex homogener Varietäten zu fassen, stellt theoretisch eine Vervielfältigung des Gegenstandsinadäquaten dar“ (Schmidt 2005: 62).
Felder rekonstruiert diese gegensätzlichen Positionen als
„unvermeidbare Diskrepanz zwischen theoretischem Erkenntnisinteresse und empirischen Befunden der sogenannten [!] Sprachwirklichkeit (Löffler 52016: 79). Auf der einen Seite befindet sich das wissenschaftliche Erkenntnisinteresse, nämlich eine plausible und Homogenität (Einheitlichkeit) implizierende Erklärungsfolie für Variantenvielfalt darzulegen. Auf der anderen Seite steht die empirische Feststellung, dass jegliche Klassifizierung und Zusammenfassung diverser Sprachvarianten doch nicht zur vollständigen und restlosen Einteilung aller empirisch feststellbaren Phänomene geeignet ist. Dieser Widerspruch ist insofern kein Problem (sondern im Gegenteil erkenntnisstiftend), als man sich die eigentliche Erklärungskraft von Kategorien vor Augen führt: Diese besteht nicht nur in dem wünschenswerten Ergebnis, möglichst viele Phänomene nach transparenten Kriterien in klar definierte ,Schubladen‘ (also Kategorien) einzuordnen, sondern auch darin, nicht kategorisierbare Phänomene möglichst genau zu beschreiben und ihre mangelnde Passfähigkeit in Bezug auf das bestehende Kategoriensystem präzise zu erfassen. Insofern lernen wir über die ‚widerspenstigen‘ (weil nicht 1:1 kategorisierbaren) Phänomene sehr viel – und zwar dank und trotz des unvollständigen Kategorienapparats, der unter Umständen eben nicht zur Einordnung eines bestimmten Phänomens in der Lage ist.“ (Felder 2016: 78f.)
Dieser Argumentation kann sich natürlich nicht anschließen, wer die Homogenität – sei es für Sprachen, Varietäten oder auch nur Idiolekte – als theoretisch falsch, als gegenstandsinadäquat, betrachtet. Das tun besonders diejenigen, die die Auswahl einer bestimmten Varietät oder auch einzelner Varianten nicht grundsätzlich als durch außersprachliche Faktoren bedingtes Sprachverhalten betrachten, sondern als teilweise gezielt