VARIATIONslinguistik trifft TEXTlinguistik. Группа авторов. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Группа авторов
Издательство: Bookwire
Серия: Europäische Studien zur Textlinguistik
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783823300922
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zusätzlich auch literarische Genres ‚bereitgestellt‘, die den einzelnen noch stärker von eigenständigen Sinnsetzungen und -findungen entlasten können. Kommunikative Gattungen reichen von alltäglichen Sprichwörtern bis zu Fabeln, von Fluch- und Schimpfkonventionen bis zu Heiligenlegenden.“ (Schütz / Luckmann 2017: 450)

      Eine Entgegensetzung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, Alltags- und Hochkultur ist nicht zu erkennen; ferner geht es offensichtlich nicht in erster Linie um Muster für die Lösung alltäglicher Kommunikationsaufgaben – in diese Richtung verflachen die Vorstellungen von Textsorten / kommunikativen Gattungen besonders leicht –, sondern um anthropologische Grundaufgaben der Sinnfindung. Diese stehen auch bei Jolles im Mittelpunkt (vgl. bes. den Ausblick in Jolles 1930 / 1999: 262–268, wo er erwägt, ob sich die Einfachen Formen in allen Kulturen finden).

      Zumindest aus heutiger Sicht etwas befremdlich wirken die beiden zentralen Termini, mit denen Jolles arbeitet, nämlich Geistesbeschäftigung und Sprachgebärde. Zum ersten hat Luckmann sich folgendermaßen geäußert:

      „Nach Jolles entwickeln sich diese kleinen Gattungen gewissermaßen von selbst aus der Sprache, wenn der Mensch der Welt mit einer bestimmten ‚Geistesbeschäftigung‘ begegnet. Jeder einfachen Form ordnet Jolles die für sie spezifische und maßgebliche Geistesbeschäftigung zu: dem Memorabile etwa die ‚Geistesbeschäftigung mit dem Tatsächlichen‘, dem Märchen dagegen die der ‚naiven Moral‘. Statt von Geistesbeschäftigung zu reden, würden wir heute eher, wie es H. R. Jauss vorgeschlagen hat, den Schützschen Begriff der ‚Subsinnwelt‘ verwenden. Die kleinen (vorliterarischen) Gattungen können soziologisch als Organisationsformen des Alltagswissens verstanden werden, die darauf angelegt sind, die intersubjektive Erfahrung der Lebenswelt unter verschiedenen Sinnkriterien zu thematisieren, zu bewältigen und zu vermitteln.“ (Luckmann 2002: 166; Anm. 16; Hervorhebungen K. A.)

      Für Schütz ist die Auffassung zentral, dass sich die Lebenswelt in verschiedene Wirklichkeitsbereiche mit jeweils eigener Sinnstruktur untergliedert: „alle Erfahrungen, die zu einem geschlossenen Sinngebiet gehören, weisen einen besonderen Erlebnis- bzw. Erkenntnisstil auf“ (Schütz / Luckmann 2017: 54; Hervorhebungen K. A.). Neben der alltäglichen Lebenswelt gehören dazu die Welt des Traums, der Literatur, der Religion und der Wissenschaft (vgl. dazu weiter Adamzik 2018b: Kap. 2.4.). Wo Jolles von verschiedenen Geistesbeschäftigungen spricht, unterscheidet Luckmann Gattungsfamilien, mit denen kollektive ‚kommunikative Probleme‘ bearbeitet werden.

      „Die wichtigsten davon sind: Wie werden relevante Aspekte der Vergangenheit vor dem Vergessen bewahrt? Wie werden zukünftige Handlungen geplant und umgesetzt? Wie wird Allgemeinwissen oder Sonderwissen vermittelt? Wie werden Vorstellungen guten Lebens formuliert und gestützt? Offensichtlich sind Probleme dieser Art universell.“ (Luckmann 2002: 184)

      Die dem zuerst genannten Problem geltenden rekonstruktiven Gattungen hält Luckmann (ebd.: 178) für „eine der wichtigsten sprachlich-kommunikativen Funktionen in menschlichen Gesellschaften“. Dabei bezieht er sich keineswegs jeweils auf Gesamtgesellschaften, sondern auf Formationen aller Art und auch auf Individuen.

      „Zu verstehen, wie eine Gesellschaft, eine Gruppe, eine Organisation, eine Institution, eine Person Ausschnitte und Gesamtheiten ihrer Vergangenheiten aufbereiten und vermitteln, heißt, Wesentliches über eine Gesellschaft, Gruppe, Institution, Person zu verstehen. Ein wesentlicher Teil der historischen gesellschaftlichen Konstruktionen von Wirklichkeit besteht erstens aus vielschichtigen kommunikativen Bearbeitungen von Vergangenheit und zweitens aus der Vermittlung der Ergebnisse solcher Bearbeitungen über Generationen hinweg. Über kommunikative Vorgänge und Gattungen hinaus, deren Hauptfunktion Vergangenheitsvergegenwärtigung ist, dürften sich rekonstruktive Funktionselemente auch in vielen anderen, vor allem zukunftsplanenden, moralisch-pädagogischen und – auf personaler und Gruppenebene – identitätsstiftenden kommunikativen Vorgängen und Gattungen finden.“ (Luckmann 2002: 179; Hervorhebung K. A.)

      Der Hinweis auf die identitätsstiftende Funktion solcher Gattungen stellt die Verbindung zur Varietätenproblematik her, auf die Luckmann auch explizit eingeht. Dies führt auf die Frage nach der Festigkeit von Gattungen und der Bedeutung verfestigter Formen überhaupt zurück. Auer (1999: 177) erkennt als Fortschritt von Luckmanns Gattungsbegriff gegenüber dem der Textsorten,2 er werde „nicht so weit, daß er sinnlos würde: nicht alles Sprechen findet in Gattungen statt“. Bei Luckmann heißt es dazu:

      „Wenn man alltägliche kommunikative Interaktionen von Angesicht zu Angesicht betrachtet und anhört, wird offensichtlich, daß gattungsartig festgelegte Interaktionen wie Inseln im Fluß weniger streng strukturierter kommunikativer Prozesse auftreten. Zweifellos kann ein Individuum in einigen kommunikativen Handlungen einem selbstgewählten Ablauf kommunikativer Schritte folgen, um das Ziel zu erreichen, das es sich selbst gesetzt hat. Die Wahlen sind eingeschränkt von morpho-phonetischen, syntaktischen und lexikalischen Regeln und von klassen-, milieu-, geschlechts-, alters- und situationsabhängigen Regelungen des Sprachgebrauchs.“ (2002: 179; Hervorhebungen K. A.; vgl. auch ebd.: 198)

      Der Hinweis auf eine Skala von Vorstrukturiertheit und die Auflistung der Variationsparameter zeigen, dass Luckmann einen denkbar weiten Phänomenbereich im Auge hat; angesichts des Anspruchs, eine soziologische Sprachtheorie zu entwickeln, kann das auch nicht erstaunen. Es fragt sich allerdings, welchen Stellenwert die Rückbesinnung auf die Einfachen Formen eigentlich hat. Halten wir vorerst nur – als wenig spektakulären Hinweis – fest, dass neben den in der Variationslinguistik im Vordergrund stehenden phonetischen, grammatischen und lexikalischen Variablen selbstverständlich auch die Kenntnis und der Gebrauch von Gattungen gruppen- bzw. varietätenspezifisch sein können. Luckmann (vgl. 2002: 167) spricht dabei von der Außenstruktur kommunikativer Gattungen, die insbesondere relevante soziale Milieus und Situationen betrifft. Auf die Binnenstruktur komme ich etwas später zu sprechen, weil sich hier m. E. der Vergleich zum Ansatz von Fix als interessant erweist.

      Fix geht es aus textlinguistisch-rhetorisch-stilistischer Sicht darum, Textsorten danach zu gruppieren, inwiefern sie in ihrer Oberflächenstruktur festgelegt sind bzw. wie viel und welche Variation sie zulassen. Sie unterscheidet zentral drei Gruppen (Abb. 2): Zwischen den in der Rhetorik als Verbrauchsrede bezeichneten Gebrauchstexten und den für die Überlieferung ausgearbeiteten Texten (Wiedergebrauchsrede) siedelt sie als Reproduziertexte eben jene nicht absichtlich gestalteten kleinen Gattungen an, die Jolles mit Jacob Grimm auch als Naturpoesie bezeichnet. Sie weisen (schon aus mnemotechnischen Gründen) eine gewisse ästhetische Formung auf, sind aber für Variation relativ offen, während die echten Kunstwerke Änderungen nicht zuließen.

1 Zitiertexte in jeder Hinsicht festgelegte ästhetisierte Form; Wiedergebrauchsrede Choral; literarische Texte
2 Reproduziertexte durchgehaltener ästhetischer Gestus Märchen; Einfache Formen
3 Mustertexte mit signalhaften, die Textsorte indizierenden Merkmalen ohne grundsätzlichen Ästhetisierungsanspruch; Verbrauchsrede Gutachten; Gebrauchstexte
4 Abweichungstexte erkennbar intendierte Abweichung zu Texten vom Typ 1–3 Antisprichwörter

      Tab. 1:

      Textsortengruppen (nach Fix 2009 / 2013: 188, 201; vgl. auch Fix 2009b: 17f.)

      „Im Fall der literarischen Texte sind Änderungen nicht möglich bzw. gar nicht angestrebt. Wo mehrere Fassungen eines Textes vorliegen, wird man immer bemüht sein, die ‚authentischste‘ (Erstfassung, Fassung