Die Abweichungstexte kommen in der eigentlichen Gliederung nicht vor, sondern werden erst am Schluss erwähnt. Sie stehen quer zu den drei Hauptgruppen und können auf allen dreien operieren. In diese Gruppe gehören auch die Beispiele [1] und [2] vom Anfang dieses Beitrags, die ich als Sprachspiele bezeichnet habe, um ihren besonderen Stellenwert hervorzuheben: Es handelt sich um ein eigenes Sinngebiet bzw. eine ‚Subsinnwelt‘.
Es scheint mir nun sinnvoll, die Vorstellungen von Fix zusammenzubringen mit Luckmanns Rede von der kommunikativen Urproduktion, zumal Fix sich bei den strikt fixierten Textsorten (Gruppe 1) auf die Rezeption als Form der Tradierung und auf Lesarten als Varianten beschränkt. Für nicht ganz überzeugend halte ich es, rituelle und literarische Texte zusammenzugreifen und sie als Zitiertexte zu bezeichnen. Für beide Gruppen ist das Zitieren nämlich eine untypische oder jedenfalls sekundäre Form der Weiterbearbeitung. Charakteristisch ist das Zitieren vielmehr für Wissenschaftstexte,3 also die Gattungen, die die Aufgabe bearbeiten, Sonderwissen weiterzugeben. Sie sind – nach unserem Wissenschaftsverständnis – auf die auszugsweise Wiedergabe angelegt, an die sich dann Zustimmung, Kritik, Korrektur, Weiterentwicklung o. Ä. anschließt. Zitieren kann man natürlich auch alle anderen Arten von Texten. Für rituelle Texte, Choräle und von den literarischen mindestens für Dramen ist aber das Aufführen die charakteristischste Weiterbearbeitung. Insofern handelt es sich also auch um Texte, die zur Reproduktion gedacht sind, und zwar in eben jener kommunikativen Urproduktion, die den Sinn der Texte wieder neu lebendig macht: Ein Glaubensbekenntnis zu zitieren (Geistesbeschäftigung bzw. Sinngebiet: Wissensvermittlung), ist etwas ganz anderes, als es zu sprechen, um die Illokution für den Sprecher zu aktualisieren (Sinngebiet: Religionsausübung).
Auch der Ausdruck Mustertexte für die dritte Gruppe scheint mir insofern problematisch, als man unter Mustertexten gewöhnlich solche versteht, die als Muster bzw. Vorlagen für neue Texte fungieren (z. B. Musterbriefe oder -verträge). Wiederum würde man dies dem Sinngebiet Wissensvermittlung zuordnen, genauer: dem Vertrautmachen mit Konventionen mittels exemplarischer Realisierungen. Solche ‚Rezepte‘ samt Proben finden wir für Gebrauchs- wie auch für Kunstformen oder sonst anspruchsvollere Texte, sie sind keineswegs mit der Regelpoetik ausgestorben. Es gibt Kurse und Lehrbücher nicht nur für wissenschaftliches, sondern auch für literarisches Schreiben (vgl. z. B. text-manufaktur.de oder schreibszene.ch), für Verkaufsgespräche, Verhöre, Predigten, interkulturelle Begegnungen usw. Nur bei solchen Lehr- und Übungsformen scheint es mir überhaupt sinnvoll zu sein, von der Tradierung von Gattungen zu sprechen. Normalerweise werden Gattungen dagegen nur implizit tradiert, und zwar indem entsprechende Texte tradiert werden. Das kann man ganz analog zum elementaren Fremdsprachenerwerb sehen: Grammatische Regeln kann man zwar explizit formulieren, lehren und lernen, der rezeptive und produktive Gebrauch von Sprache ist aber bekanntlich erheblich bedeutsamer und vor allem wirksamer. Wenn es um ein hohes Niveau der Sprachbeherrschung geht, sagen wir die legendäre Stufe C2 des Referenzrahmens, die sich auch in der Muttersprache nicht von selbst einstellt, lässt sich eigentlich kaum vorstellen, wie man sich die entsprechenden Kompetenzen bzw. Wissensbestände anders aneignen könnte als durch die Rezeption entsprechender Texte. Dabei sollte man die Aufmerksamkeit auch auf die Form richten (vgl. in diesem Sinne das Lehrbuch von Graefen / Moll 2011 und Adamzik 2018b: 291f.).
Die klassifikatorische Herangehensweise, die Texte nur als Produkte in den Blick nimmt, stößt hier grundsätzlich an ihre Grenzen: Sie kann nicht erfassen, dass man mit Texten auch anders umgehen kann, als es der Produzent beabsichtigt hat (vgl. dazu auch Adamzik 2016: Kap. 5.4.). So kann sich jeder selbst Texte zum Vorbild nehmen und sie nachahmen. Dazu gibt es eine interessante Passage bei Luckmann, in der er die Gegensätze zwischen oralen Gesellschaften und den heutigen Verhältnissen unterstreicht:
„Sowohl strukturell als funktional als auch hinsichtlich der Trägerschaft, des Milieus etc., herrschen im allgemeinen bei mündlichen Genres in ‚mündlichen‘ Kulturen ziemlich klare Verhältnisse. Bei schriftlichen Genres in Schriftkulturen ist die Sache wegen ihrer Verfügbarkeit in Texten zwar einerseits einfacher, wegen des Nebeneinanders mündlicher und schriftlicher Genres aber zugleich auch unübersichtlicher. Bei mündlichen Gattungen haben wir es meist mit kommunikativen Formationen zu tun, die in literarischen Genres gar nicht oder nur in radikal verwandelten Entsprechungen auftreten. Sie werden aber von Menschen verwendet, die in einer massenhaft verschrifteten Kultur leben. So kommt es zu merkwürdigen Brechungen und Transformationen. Diese werden in modernen Gesellschaften durch die elektronischen Massenmedien noch vervielfacht. Nicht nur reden Leute nach der Schrift, manche führen Gespräche nach der Literatur, erzählen Witze nach Witzsammelbänden, führen Verkaufsgespräche nach Textbüchern, umwerben ihre Liebste nach filmischen Vorlagen, antworten in Interviews wie sie unzählige andere (Sportler, Schauspieler, Politiker, ‚repräsentative‘ Alltagsmenschen) in Fernseh-Interviews antworten gehört und gesehen haben.“ (Luckmann 2002: 173f.; Hervorhebungen im Orig.)
Texte, die einem Muster folgen (Fix‘ Gruppe 3), gehören der alltäglichen Lebenswelt an, in der ständig konkrete Einzelprobleme zu bearbeiten sind. Hier ist es besonders sinnvoll, von Routinisierung zu sprechen, die das Individuum entlastet, während rituelle Texte wie Glaubensbekenntnisse möglichst nicht routinehaft realisiert werden sollten – das nähme ihnen ihren spezifischen Sinn. Auch rituelle Texte sind allerdings vor Variation nicht geschützt. Das ist uns nicht zuletzt aus der christlichen Tradition vertraut und wird gerade im Lutherjahr anlässlich einer neuen Übersetzung viel diskutiert. Thomas Cramer berichtet in diesem Zusammenhang von einer regelmäßig misslingenden kommunikativen Urproduktion. Er geht aus von einem subjektiven
„Erlebnis, dass [sic] sich indessen, wie ein naturwissenschaftliches Experiment zu jeder beliebigen Zeit wiederholen lässt, indem man einem protestantischen Gottesdienst beiwohnt. Gegen dessen Ende fordert der Pfarrer die Gemeinde auf, gemeinsam das Vaterunser zu beten. Die Gemeinde erhebt sich und wartet darauf, ob der Vorbeter, wie angekündigt, das Vaterunser oder, wie meist, ein Unservater betet. Das gemeinsame Gebet setzt so wie ein schlecht dirigiertes Orchester mit einer kleinen Stolperkadenz ein. Das wäre abzufangen, stellten nicht die folgenden Worte völlig unterschiedliche Lesarten dar: ,im Himmel‘, ,in dem Himmel‘, oder, wie ich es als Konfirmand gelernt habe: ,der du bist im Himmel‘, – und so geht es Satz für Satz, bis endlich die Variante ,erlöse uns von dem Übel,‘ [sic] bzw. ,Erlöse uns von dem Bösen‘ dem kakophonischen Gemurmel ein Ende macht, denn merkwürdigerweise bleibt die doxologische Formel unangetastet.“ (Cramer 2013: 123)
Ähnliches kann man auch beobachten, wenn die (deutsche) Nationalhymne gesungen wird, während Mitglieder von Fußball-Fanclubs ihre Schlachtenlieder bestens beherrschen und vollster Überzeugung lautstark artikulieren. Der Vergleich dieser beiden Konstellationen, in denen die identitätsstiftende Kraft von Gruppentexten (vgl. Adamzik 2018a) ganz unterschiedlich gut funktioniert, verdeutlicht m. E. besonders gut den Nutzen des Rückgangs auf die Mündlichkeit als kommunikative Urproduktion. Man muss Gottesdiensten beiwohnen und an Interaktionen unter Jugendlichen teilnehmen, um über das Funktionieren der jeweiligen Varietäten Aufschluss zu gewinnen. Da wir aber in einer massenhaft verschrifteten und außerdem noch durch elektronische Medien geprägten Kultur leben, ist es ganz abwegig, mündliche Gattungen und schriftliche Textsorten einander entgegenzusetzen, statt sie aufeinander zu beziehen. So gesehen ist die Betonung der grundsätzlichen Flüchtigkeit mündlicher Interaktion (etwa im Sinne von Fiehler u. a. 2004) eigentlich kontraproduktiv und führt auch auf die Frage, wieso man denn eigentlich so viel Aufwand in die Untersuchung von Prozessen investieren sollte, die erklärtermaßen nur für den Moment gedacht sind und keinen darüber hinaus weisenden Sinn implizieren. Nach Luckmanns Ansatz