Wir müssen nun noch auf die Sprachgebärde kommen. Fix interpretiert diese als eine die Form betreffende Kategorie:
„Unter Sprachgebärde versteht Jolles den formulierenden, sprachlich gestaltenden Zugriff auf die Welt, die spezifische Gestalt/Gestaltetheit der Textoberfläche, […], die er für den spezifischen Fall der Einfachen Formen, für Typen mündlichen, aber sich in festen Bahnen bewegenden Erzählens und auch für schriftliche Texte beschreibt. Die Sprachgebärde, die Textlokution, meint alles das, was an einem Text sprachlich-formulativ nicht fehlen darf, damit der Text als bestimmte Einfache Form, z. B. als Märchen, erkannt wird. Das reicht von den sprachlichen Bildern bis hin zu allen lexikalisch-morphologisch-syntaktischen Mitteln, die am Ausdruck des Gestus beteiligt sind.“ (Fix 2009 / 2013: 193; Hervorhebungen im Orig.)
Bei Luckmann, der diesen Begriff nicht ausdrücklich kommentiert, ist die Sprachgebärde auf jeden Fall der Binnenstruktur von Gattungen zuzuweisen; diese besteht aus
„Gesamtmustern recht verschiedenartiger Elemente: aus Worten und Phrasen, Gesamtregistern, Formeln und formelhaften Blöcken, rhetorischen Figuren und Tropen, Stilmitteln wie Metrik, Reimschemata, Listen, Oppositionen, Lautmelodien, Handbewegungen, Körperhaltungen, Mienen.“ (Luckmann 2002: 167)
Diese beiden Bestimmungen sind einander recht ähnlich. Bei der Erwähnung von Worten und Phrasen bzw. lexikalischen Mitteln, Tropen und Bildern kann man sich allerdings fragen, ob damit die Stilschicht/der Typ gemeint ist oder aber konkrete Einheiten, anders gesagt: Geht es nur um die Mittel, an denen man z. B. erkennt, dass es sich um ein Märchen handelt, oder auch um die, die erkennen lassen, dass es Dornröschen ist? Wir kommen also wieder auf die am Ende von 3.2 erwähnten Makro- und Superstrukturen zurück.
Greift man auf Jolles‘ Erläuterung dieses Begriffs zurück, so wird klar, dass es jedenfalls auch um (Makro-)Propositionen geht. Genauer gesagt, soll Sprachgebärde offensichtlich den Ausdruck Motiv ersetzen. Das ergibt sich aus einer im historischen Abstand (zumindest für Sprachwissenschaftler) schwer nachvollziehbaren Kritik an „der sogenannten Motivforschung“ (Jolles 1930 / 1999: 268). Im Anschluss an Nietzsches Definition des musikalischen Motivs als ‚einzelner Gebärde des musikalischen Affekts‘ (vgl . ebd.: 45) wird einzelne Gebärde der Sprache oder kurz: Sprachgebärde als geeigneter Ersatzbegriff für Motiv bestimmt. So dunkel diese expliziten Hinweise bleiben, so dankbar ist man doch für die damit gegebene Orientierung. Sie bestätigt sich endgültig in der Beispieldiskussion, in der es um den Heiligen Georg geht:
„In unserem Beispiel sind die sprachlichen Einzelgebärden: Rad mit scharfen Klingen, himmlische Stimme, eine Erscheinung im weißen Kleide, die hilfreich die Hand ausstreckt, Götter, die angeredet werden, sich dem Zeichen des Kreuzes unterwerfen, Götterbilder, die zerspringen und so weiter.“ (Jolles 1930 / 1999: 46)
Das Bild vom Heiligen Georg entwickelt sich weiter und es kommen als Sprachgebärden/Motive später vor allem noch Drachentöter und Befreier der Jungfrau hinzu. Inwiefern nun nicht nur der Inhalt, sondern auch die sprachliche Fassung (die allerdings in diversen Sprachen notwendigerweise verschieden ist) relevant für die Identifizierung einer Sprachgebärde ist, kann dahingestellt bleiben. Jedenfalls lässt sich mit Jolles die irritierende Praxis überwinden, viel von der Überlieferung von Mustern, aber kaum von der von Inhalten zu sprechen. Nur wenn beides zusammenkommt, kann die Parallelisierung von Texten mit Wörtern greifen, wenn man also Gattungen auf einer Abstraktionsebene ansiedelt, die etwa der von Wortarten vergleichbar ist, während virtuelle Texte Lexemen entsprechen.
Die Gattung Märchen wird überliefert, indem man einzelne Märchen erzählt, neue erfindet oder überlieferte Märchen neu erzählt, bebildert, aufführt, verfilmt usw. Dabei geht es zunächst um Inhalte. Wenn man das Märchen vom Rotkäppchen aktualisiert, dann muss darin eine Gestalt vorkommen, die man als Rotkäppchen (oder als Wiedergängerin von ihr) identifizieren kann, ferner der Wolf. Varianten könnten sein: eine gelbe oder grüne Kappe, rote Haare, rote Socken, Mensch namens Wolf(gang) usw. Für Rotkäppchen existieren tatsächlich besonders viele „Abweichungstexte“, die das Märchen in diverse Varietäten transponieren und dabei teilweise dem Sprachgestus des Märchens vollständig zuwiderhandeln (vgl. Ritz 2013). Dann haben wir tatsächlich gar keine (echten) Märchen mehr vor uns, d. h. die Geistesbeschäftigung ist eine andere, z. B. das Spiel mit Tradiertem, mit dem man sich davon ironisch distanziert und es doch gleichzeitig ‚sich anverwandelt‘. Man könnte diese Versionen genauer untersuchen, um festzustellen, welche Varianten vorkommen, was nötig, aber auch ausreichend ist, um den virtuellen Text wiederzuerkennen und ihn so im kollektiven Gedächtnis zu befestigen.
Das Gleiche kann man nicht nur mit anderen Reproduziertexten, sondern auch Texten anderer Gruppen durchführen. Dabei ist immer zu beachten, dass Fragmente bzw. einzelne (Makro-)Propositionen, d. h. Bausteine aus der Gesamtstruktur, ausreichen, um Texte in Erinnerung zu halten. Aus dem Kunstmärchen von Andersen ist ein Motiv in das kollektive Gedächtnis eingegangen, das in allen möglichen Texten wiederaufgenommen werden kann, nämlich das hässliche Entlein, das zum schönen Schwan wird; es eignet sich hervorragend für die moralische Gattungsfamilie.
Damit können wir zur Gegenüberstellung des Ansatzes von Fix und Luckmann kommen. Fix ist näher bei den abstrakteren Ebenen: In aller wünschenswerten Deutlichkeit kennzeichnet sie sowohl Dornröschen als auch Vom hässlichen jungen Entlein als tokens einer Gattung, eines types. Die potenziell variante Realisierung des Märchens Dornröschen (z. B. von Perrault oder Grimm, aber auch diverse Vorleseakte der Fassung von Grimm) steht nicht im Fokus – in diesem Fall werden die einzelnen Märchen, Fix‘ ,Textexemplare‘, verstanden als type (dazu, dass types und tokens auf verschiedenen Ebenen angesiedelt werden können, vgl. Adamzik 2015: Kap. 2.1).
Luckmann äußert sich nach meinem Kenntnisstand zwar theoretisch nicht sehr klar zu der Frage, auf welcher Abstraktionsebene kommunikative Gattungen anzusiedeln sind. Es müssen aber sicherlich mehrere Niveaus unterschieden werden, die Bearbeitungen sind eben vielschichtig (s. o.). Ob sich diese Niveaus klar gegeneinander abgrenzen lassen, sei dahingestellt: Ich möchte nur einige Beispiele nennen:
Wenn man Klatsch als Gattung definiert, ist in erster Linie die Außenstruktur angesprochen. Inhaltlich können damit eigentlich nur allgemeiner bekannte, insbesondere moralische Topoi gemeint sein. Ein ‚Klatsch-Exemplar‘ im Sinne von Fix besteht dann aus (einer Serie von) Interaktionen, deren Inhalte (insbesondere die gemeinsam bekannten und besprochenen Personen und ihr bedenkliches Verhalten) identifikationsstiftend für ein relativ kleines Kollektiv sind.
Was die nach Luckmann so wichtigen rekonstruktiven Gattungen angeht, so konstituiert die gemeinsame Kenntnis etwa der Gattung biografische Erzählung wohl kaum ein relevantes Kollektiv. Eine Sonderform für das Minimalkollektiv, nämlich ein Paar (Wie haben wir uns kennengelernt?), ist allerdings insofern kulturspezifisch, als sie in vergleichbarer Form nicht vorkommen dürfte in Gesellschaften, in denen Eltern oder Verwandte Ehen vereinbaren. Stark identifikationsstiftend für die Paare ist aber auch bei uns nur die jeweilige Geschichte oder die ‚Sprachgebärde‘: der verpasste Zug, die verlorene Handtasche, der Autounfall usw. Das gemeinsame Erinnern an die Erstbegegnung oder auch an andere geteilte Erlebnisse (Weißt du noch …?) kann rituellen Charakter annehmen und an Jahrestagen zelebriert werden o. Ä. Außerdem werden diese und andere zentrale Episoden aus der Familiengeschichte wie die Geburt der Kinder, der Tod von nahen Angehörigen, Feiern usw. über die Generationen weitergegeben und bevorzugt beim gemeinsamen Betrachten von Fotoalben (demnächst vielleicht eher Videos) erzählt. Dazu gehören auch familienspezifische Wörter und Wendungen (Onkel Fritz sagte immer …), einschließlich der originellen Kreationen sprachlernender Kinder. Es ist aber nicht ausgeschlossen, dass Derartiges auch eine weitere Verbreitung erfährt. Es gibt sogar einen Verlag für Kindermund (kindermund.de).
Um auf die Erstbegegnung von Paaren zurückzukommen, so geht es auf einem mittleren Abstraktionsniveau etwa darum, ob es sich um einen Fall von Liebe auf den ersten Blick handelt oder gerade nicht, ob die Beziehung eigentlich als ,ausgemacht‘ galt, dann aber doch zu einer unerfüllten