Bei ihrer Musterung verschiedener Disziplinen, die für die Variationslinguistik wichtig waren oder sind, nennen Lüdtke / Mattheier (2005: 20) die Stilistik den „Bereich der Sprachwissenschaft, in dem Sprachvariation am intensivsten und wohl auch am differenziertesten thematisiert worden ist.“ Von der Textlinguistik ist bezeichnenderweise nicht die Rede. Dazu passt, dass Ulla Fix (2009b: 13) in ihrer Bestandsaufnahme zur Textlinguistik Gestaltqualität bzw. Textstil als lange vernachlässigte Dimension ausgemacht hat. So ergibt sich als Fazit, dass Variations- und Textlinguistik allenfalls potenziell gemeinsamen Fragestellungen nachgehen. Zu vielfältig sind in beiden Disziplinen die theoretischen und methodischen Prämissen, als dass sich ein klarer Überschneidungsbereich hätte herauskristallisieren können. Das derzeit real existierende Gemeinsame liegt damit nur darin, dass in jedem Fall Texte das Objekt der Bemühungen darstellen: „Variation spielt sich auf der Diskursebene ab“ (Lüdtke / Mattheier 2005: 15).2 Und selbst das gilt nur dann, wenn die empirische Grundlage auch tatsächlich aus natürlichen Äußerungen als Ganzheiten besteht. Schon in Großkorpora erscheinen in der Regel nur Textfragmente. Greift man auf Befragungen oder elizitierte Äußerungen zurück, haben wir es nicht einmal mehr vordergründig mit demselben Gegenstand zu tun.
3 Die Notwendigkeit von Abstraktionen
Bislang wurde der Gegensatz zwischen sprachwissenschaftlichen Ansätzen betont, die sich auf die Untersuchung der Langue oder aber der Parole konzentrieren. Dabei kann leicht der Eindruck entstehen, beide stünden in geradezu unversöhnlichem Gegensatz zueinander. Davon kann insofern keine Rede sein, als es sicherlich zu den Aufgaben der Sprachwissenschaft gehört nachvollziehbar zu machen, welche Leistungen Interaktanten bei der Entschlüsselung sprachlicher Botschaften erbringen (müssen). Wenn wir uns auf die Rezeptionsseite beziehen, so sind konkret gegeben zunächst nur Sinneswahrnehmungen; das betrifft die Ebene der Parole. Die Verarbeitung besteht darin, sie diversen Kategorien zuzuweisen – diese entsprechen im Prinzip der Langue-Ebene. Die Frage ist allerdings, mit welchen Ebenen und Kategorien wir genau rechnen.
Zunächst geht es darum zu erkennen, ob es sich überhaupt um Sprache handelt. Das kommt sehr gut im Original der Eingangsbeispiele zum Ausdruck, wo die Protagonisten visuelle Wahrnehmungen unterschiedlich deuten und (in der mittleren Strophe) nur das Kind das Hörbare als sprachliche Äußerung auffasst:
[3] Erlkönig
[…]
Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht? –
Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht?
Den Erlenkönig mit Kron und Schweif? –
Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif. –
[…]
Mein Vater, mein Vater, und hörest du nicht,
Was Erlenkönig mir leise verspricht? –
Sei ruhig, bleibe ruhig, mein Kind;
In dürren Blättern säuselt der Wind. –
[…]
Mein Vater, mein Vater, und siehst du nicht dort
Erlkönigs Töchter am düstern Ort? –
Mein Sohn, mein Sohn ich seh es genau:
Es scheinen die alten Weiden so grau. –
[…]
Wenn etwas als sprachliche Botschaft kategorisiert ist, muss weiter ‚entschieden‘ werden, zu welcher Sprache oder Varietät die Einheiten gehören, zumal es ja vorkommt, dass in einer Äußerung verschiedene davon gemischt sind. Eine möglichst differenzierte Erfassung der menschlichen Lautprodukte (also der materiellen Seite), wie sie das Internationale Phonetische Alphabet (IPA) erlaubt, ist dabei bekanntlich nicht einmal besonders nützlich – so genau will und muss man im Allgemeinen gar nicht wissen, wie sich eine Äußerung angehört hat, man muss nur erkennen, welches Element gemeint war. Deswegen sind gebräuchliche Schriftsysteme sehr viel undifferenzierter als das IPA. Die Einführung der abstrakten Kategorie Phonem, die Varianten, die Allophone, umfasst, stellte für die Systemlinguistik den entscheidenden Durchbruch dar. Ebenso effizient ist dieses Verfahren auf der morphologischen Ebene, wo auch Einheiten, die materiell nicht das Mindeste miteinander zu tun haben (wie die Suppletivformen sein, bin, war), als Repräsentanten derselben abstrakten Kategorie fungieren.
Obwohl nun, wie Abschnitt 2 gezeigt hat, systemlinguistisches Denken in der Textlinguistik durchaus verbreitet ist, spielt die konsequente Übertragung strukturalistischer Analyseverfahren auf Texte dort fast keine Rolle, genauer gesagt wurde damit nur in der Anfangsphase experimentiert. Das schlägt sich in Ausdrücken wie Textem und Allotext nieder, die sich aber nicht etabliert haben und nur sehr selten vorkommen. Stattdessen traten auf der Textebene bald sehr viel abstraktere Einheiten in den Vordergrund, vor allem Textsorten (oder auch ‑klassen, ‑typen etc.). Den frühen Versuchen soll in Kapitel 3.2 etwas genauer nachgegangen werden. Zunächst geht es jedoch darum, den unterschiedlichen Blickwinkel auf Texte gegenüber tieferen Rängen zu verdeutlichen.
3.1 Abstraktionen auf verschiedenen Sprachebenen
Als Ausgangspunkt drängt sich eine Formulierung von Brinker auf, die zu den meistzitierten in textlinguistischer Literatur gehört:
„Nun ist ein konkreter Text aber nicht nur eine Realisierung der allgemeinen Größe ‚Text‘; er repräsentiert vielmehr zugleich auch eine bestimmte Textsorte, d. h., er ist ein Fernsehkommentar, eine Zeitungsnachricht, ein Kochrezept oder eine Werbeanzeige – um nur einige alltagssprachliche Namen für Textsorten zu nennen. [...] Der konkrete Text erscheint immer als Exemplar einer bestimmten Textsorte“ (Brinker u. a. 2014: 133; zuerst Brinker 1985: 118; Hervorhebungen K. A.).
Bezogen auf unser Beispiel hieße das:
Nun ist [3] aber nicht nur eine Realisierung der allgemeinen Größe ‚Text‘; es repräsentiert vielmehr zugleich auch eine bestimmte Textsorte, d. h., es ist ein Gedicht, genauer gesagt eine Ballade.
Übertragen auf die Lautebene entspräche dem etwa die Aussage:
Nun ist ein konkretes Phon aber nicht nur eine Realisierung der allgemeinen Größe ‚Sprachlaut‘; es repräsentiert vielmehr zugleich auch eine bestimmte Lautsorte, d. h., es ist ein Vokal oder Konsonant, ein Nasal oder Plosiv – um nur einige der üblicherweise unterschiedenen Arten von Lauten zu nennen.
Die Übertragung auf die Wortebene erlaubt diverse Varianten, weil man hier mit abstrakten Einheiten unterschiedlicher Kategorien rechnet, u. a.:
Nun ist ein konkretes Wort aber nicht nur eine Realisierung der allgemeinen Größe ‚Sprachzeichen‘; es repräsentiert vielmehr zugleich auch eine bestimmte Wortart, d. h., es ist ein Substantiv, Verb, Adjektiv, ...
Nun ist ein (komplexes) Wort aber nicht nur eine Realisierung der allgemeinen Größe ‚Wort‘; es repräsentiert vielmehr zugleich auch ein bestimmtes Wortbildungsmuster, d. h. es ist z. B. eine Ableitung aus einem Nomen, die Konversion eines Verbs, ...
Nun ist ein konkretes Textwort aber nicht nur eine