Zu dieser Sichtweise passt natürlich die Auffassung nicht, dass es sich bei Texten (oder gar Gattungen) um statische Gebilde handelt, die fixiert wären. Selbstverständlich gibt es solche Fixierungen, genauer gesagt: virtuelle Texte (und ihre Bestandteile) werden immer wieder neu fixiert, materialisiert, und es ist auch sinnvoll, diese verschiedenen Fixierungen zu studieren, aber der Sprachgebrauch besteht nicht in den Produkten, sondern den Prozessen ihrer Herstellung, Ver- und Weiterbearbeitung.
Zum Abschluss soll noch auf die Gattung der Texte eingegangen werden, die der Vermittlung von Allgemein- und Sonderwissen dienen, speziell auf wissenschaftliche Texte, also den Prototyp von ‚Zitiertexten‘ im engeren Sinn. Im Prinzip unterscheiden sie sich hinsichtlich der Überlieferung nicht von anderen Texten (mit Überlieferungswert). Eine Besonderheit besteht allerdings darin, dass die kritische Prüfung und Weiterentwicklung ihrer Inhalte (in unserer Gesellschaft) ausdrücklich vorgesehen sind, sie also immer nur bis auf Weiteres Geltung haben. Darüber, was zitierenswerte Texte sind, ‚entscheiden‘ Kollektive, sie bringen sie nämlich erst als solche hervor. Das geschieht wohl meist über die Unzahl unscheinbarer Akte, deren Ergebnis schließlich als Wirken einer unsichtbaren Hand erscheint, es kann aber auch formalisierte Verfahren umfassen.
Im elementaren Sinne ist es für die Umwandlung eines virtuellen Textes, sei es in ein anerkanntes Kunstwerk, sei es in einen wissenschaftlichen Klassiker, für die Kanonisierung also,4 notwendig, dass er veröffentlicht und immer wieder neu materialisiert wird. Ich beziehe mich auf die hier besprochenen Autoren und damit Verwandtes: Jolles (1930) und Berger / Luckmann (1966) sind kontinuierlich (übersetzt und) wieder neu aufgelegt worden, die Aufsatzsammlung von Luckmann (2002), in der auch ältere Texte erstmals (auf Deutsch) publiziert sind, ist dagegen derzeit nicht mehr im Handel. Manche publizierten Werke geraten in Vergessenheit, werden aber später wiederentdeckt. Dazu gehört z. B. die einzige Monografie von Alfred Schütz, die schon zu seinen Lebzeiten (nämlich 1932) erschienen ist und die heute als Klassiker gilt. Dasselbe lässt sich für Ludwik Fleck (1935) feststellen, dessen (höchst lesenswertes) Werk hier schon deshalb erwähnt werden muss, weil er selbst darin den Gedanken ausführt, dass auch (natur-)wissenschaftliche Tatsachen das Produkt von Denkkollektiven darstellen (vgl. dazu weiter Adamzik 2018b: Kap. 5.2.).
Die wiederholte Materialisierung des virtuellen Texts (im vollständigen und unangetasteten Wortlaut) und selbst die breite individuelle Rezeption dieses Textes sind aber nicht einmal notwendig, um ihn dem kollektiven Gedächtnis bzw. dem Gedächtnis bestimmter Kollektive einzuverleiben. Das hat besonders Kuhn für die Naturwissenschaften hervorgehoben, in denen Lehrbücher (statt die Originalwerke der Heroen dieser Wissenschaft) eine herausragende Rolle spielen (vgl. Kuhn 1976: 177). Für die Kanonisierung sind viel entscheidender als die Lektüre des Textes durch alle Mitglieder des Kollektivs andere Formen der Weiterbearbeitung, eben das Zitieren, Besprechen, Erwähnen, Zusammenfassen sowie alle Formen, in denen nur einzelne Bausteine aufgegriffen und wieder neu in den kommunikativen Haushalt eingespeist werden, seien es nun (Makro-)Propositionen, Begriffe (wie z. B. Geistesbeschäftigung, Denkstil, Subsinnwelt, Sprachgebärde, kommunikative Urproduktion usw.) oder charakteristische Formulierungen. Besonders wirksam ist es, wenn man das, was früher Sonderwissen war, zu Allgemeinwissen deklariert, indem man es auf (schulische) Lehrpläne setzt und entsprechend in Lehrmaterial aufbereitet. Das betrifft sowohl wissenschaftliche als auch literarische Texte und beide werden dabei, sofern sie einen bestimmten Umfang überschreiten, nicht nur massiv gekürzt, sie können auch bis zur Unkenntlichkeit entstellt werden (für Beispiele vgl. Adamzik 2018b: Kap. 5.2. und 5.5.). Man darf hoffen, dass das dann in kommunikativer Urproduktion, nämlich im Unterrichtsgespräch, wieder korrigiert wird.
5 Fazit
Anliegen des Beitrags war es, den mit der Tagung angestoßenen Austausch zwischen der Variationslinguistik und anderen Subdisziplinen näher zu begründen, und zwar in einer Zeit, in der Interdisziplinarität eigentlich groß geschrieben wird, zugleich aber der Druck zu innovativer Spitzenforschung so stark ist, dass selbst an den ,gleichen Gegenständen‘ arbeitende und traditionell kooperierende Forschungsrichtungen sich leicht zu einer Menge hochspezialisierter Sonderzweige auseinanderentwickeln, denen (verständlicherweise) mehr an der eigenen Profilierung als an gemeinsamen Grundlagen und Zielen gelegen ist. Ein gutes Beispiel dafür ist die getrennte Behandlung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, die in der frühen Textlinguistik ausdrücklich zurückgewiesen wurde.
Von weitem gesehen behandeln auch Variations- und Textlinguistik denselben Gegenstand, nämlich den Sprachgebrauch, ein ausgeprägtes Bewusstsein der (potenziellen) Gemeinsamkeiten hat sich aber nie entwickelt. Wenn man die Untersuchung von Variablen und Varianten als Kern der Variationslinguistik betrachtet, so sind Untersuchungsansätze, die sich auf Texte als fixierte Produkte konzentrieren, von diesem Interessenschwerpunkt allerdings auch relativ weit entfernt.
Hier wurde die Voraussetzung, beide Subdisziplinen wendeten sich gleichermaßen gegen die Systemlinguistik, als nur vordergründige Gemeinsamkeit betrachtet, die einer antagonistischen Betrachtung von Langue vs. Parole entspringt und zu wenig produktiven Extrempositionen verleitet. Die Rückbesinnung auf weitere Nachbardisziplinen und Forschungstraditionen ist hilfreich, wenn nicht notwendig, um allzu verengte methodische Ansätze zu vermeiden. Diesem Vorgehen entsprechen die Arbeiten von Ulla Fix und Thomas Luckmann, die beide mündlich tradierte Gattungen als Paradebeispiel für Texte mit relativ großem Variationsspielraum behandeln und dabei auf die klassische Studie von André Jolles zurückgreifen.
So erhellend die Ausführungen zu Reproduziertexten und kommunikativen Gattungen sind, so problematisch scheint es mir allerdings, sie anderen Arten von Texten scharf entgegenzustellen. Dies entspricht m. E. auch nicht der Absicht Luckmanns, zumal die angestrebte soziologische Sprachtheorie ja unmöglich die wichtigsten Werkzeuge hochentwickelter Gesellschaften außer Acht lassen könnte, mit denen Sinn produziert und tradiert wird, nämlich schriftliche Texte. Ein Desideratum der soziologischen Forschung hatte Luckmann darin gesehen, dass sie sich nicht mit der Frage befasst hat, wie sich diese Sinnerzeugung im Einzelnen vollzieht. Als Antwort auf diese Frage betrachte ich seine Metapher von der kommunikativen Urproduktion. Sie ist zugleich geeignet, der extremen Expansion des Kommunikationsbegriffs entgegenzutreten, die auch diesen sinnlos macht:
„Nicht alles an menschlichen Begegnungen, ja nicht einmal alles, was für den einen oder anderen Beteiligten als sinnvoll erscheint, ist Kommunikation. Gedanken und Gefühle des einen können vor dem anderen verborgen werden. Überdies ist auch nicht jede Kommunikation sogleich kommunikative Interaktion. Gedanken und Gefühle können manchmal nicht vor dem anderen verborgen werden – und manchmal sollen sie das auch nicht. Wann immer menschliche Wesen kopräsent sind, bilden ihre Körper (mögliche) Ausdrucksfelder, und diese Ausdrücke können in vergleichsweise systematischer, wenn auch nicht immer sehr verläßlicher Weise gedeutet werden, und zwar auch dann, wenn sie nicht Teile von mimetischen, gestischen, taktilen oder olfaktorischen Zeichensystemen sind. Die empirisch bedeutsamste Form der Kommunikation ist jedoch die soziale Interaktion.“ (Luckmann 2002: 187)
Zentrale These dieses Beitrags ist, dass zum kollektiven (Sprach-)Gedächtnis bestimmter Gruppen nicht