Befragt danach, ob und wie gut sie sich durch die allgemeinbildende Schule auf die sprachlichen und kommunikativen Anforderungen der Ausbildung vorbereitet fühlen, war ein durchgängiger Tenor der Antworten, dass Schule ausführlich auf sprachliche Fähigkeiten wie Rechtschreibung und Grammatik(analyse), die für den Beruf als irrelevant empfunden werden, vorbereitet habe, aber nicht (ausreichend) auf kommunikative Fähigkeiten und typische berufliche Textsorten und Sprachhandlungsmuster […] (Efing, 2012:9).
Eine unzureichende Textsorten- und Schreibkompetenz der Schulabgänger kann zudem zur Folge haben, dass die Bewerber nicht ausbildungsreif sind.
Die Zahl der Unternehmen, die mangelnde Ausbildungsreife der Schulabgänger als Ausbildungshemmnis sehen, stagniert auf hohem Niveau. Die mangelnde Ausbildungsreife bleibt somit das Ausbildungshemmnis Nr. 1 (Deutscher Industrie- und Handelskammertag, 2012:32).
So klagt die Hälfte der Ausbildungsbetriebe in der IHK über ein unzureichendes schriftliches Ausdrucksvermögen der Auszubildenden (Deutscher Industrie- und Handelskammertag, 2012:33). Doch das Dilemma um Ausbildungsplatznachfrage und -angebot spitzt sich weiter zu: Gerade in der Gastronomie und Hotellerie können freie Ausbildungsplätze nicht besetzt werden. Diese Situation zeigt, dass ein Schüler mit einem Ausbildungswunsch in der Gastronomie/Hotellerie eine breite Auswahl an Ausbildungsstellen hat, sofern dieser ausbildungsreif ist.
Um einer unzureichenden Textsorten- und Schreibkompetenz an einem Beispiel prototypisch erfolgreich zu begegnen, soll das Promotionsvorhaben im Rahmen eines schulischen Schreibprojekts mit Schülern der allgemeinbildenden (n = 77) und berufsbildenden Schule (n = 26) (Schwerpunkt Hotellerie/Gastronomie) durchgeführt werden.
Hintergrund ist der persönliche Erfahrungsschatz der Autorin im Bereich der Hotellerie als ausgebildete Hotelfachfrau, als IHK-Prüferin bei den Zwischen- und Abschlussprüfungen der Hotelfachfrauen und -männer, als selbstständige Beraterin und Betriebswirtin (IHK) in der Hotellerie- und Gastronomiebranche sowie als ausgebildete und verbeamtete Realschullehrerin (M. Ed.) für die Fächer Deutsch, Politik und Wirtschaft. Unterrichtsgegenstand im Fach Deutsch soll das Schreiben von Bewerbungsanschreiben und unverlangten Angeboten sein, um sich exemplarisch dem Schreiben nach DIN-Norm 5008 am Computer zu nähern und Wissen über die Form einer ersten Willenserklärung für Verträge, wie bei Angeboten, zu erlangen. Daher ist diese Promotion mit dem Projekttitel Evaluation eines berufsorientierten Schreibprojekts: Niedersächsische Schülerinnen und Schüler schreiben Bewerbungsanschreiben und Angebote mithilfe von SRSD und Feedbackgesprächen am Lehrstuhl für Deutschdidaktik unter der Betreuung von Frau Prof. Astrid Neumann (Universität Leuphana, Lüneburg) und Herrn Prof. Christian Efing (Bergische Universität, Wuppertal) mit der grundlegenden Fragestellung entstanden: Wie entwickelt sich die Schreibkompetenz bei Schülern von allgemeinbildenden und berufsbildenden Schulen mithilfe des SRSD-Ansatzes anhand der Textsorten „Bewerbungsanschreiben“ und „unverlangtes Angebot“ im Laufe eines Schreibprojekts?.2Ziel der Arbeit ist es, für Sekundarstufe-I-Lehrer, Lehramtsanwärter, Deutschstudenten, (Berufsschul-) Lehrer sowie Ausbilder die Stärken und Schwächen eines erprobten und evaluierten Schreibprojekts zu präsentieren. Das Schreibprojekt soll einen ersten Einblick in den Unterricht mit berufsnahen Textsorten geben, die didaktisch aufbereitet sind und einer Handlungsorientierung unterliegen.
Die vorliegende Arbeit ist in fünf Kapitel unterteilt: Nach dieser Einleitung (Kapitel 1) folgen die Theorie und fachwissenschaftlichen Grundlagen (Kapitel 2).
Theorie und Forschungsstand werden beide nicht getrennt voneinander, sondern integrativ erläutert. Zunächst folgen die genaue Definition und der Forschungsstand zu Schreibkompetenz und ihre Entwicklung (Kapitel 2.1). Die Kapitel Schreibkompetenz vor der beruflichen Ausbildung am Ende der Sekundarstufe I (Kapitel 2.2) sowie Schreibkompetenz in der dualen Ausbildung (Kapitel 2.3) geben Einblicke in die Schreibdidaktik und die curricularen Schreibanforderungen. Die Text(sorten)kompetenz im beruflichen Feld (Kapitel 2.4) wird anschließend ausführlich mit textlinguistischen und didaktischen Bezügen dargestellt. Gerade für die Auswertung der Schülerprodukte ist dieses Kapitel essenziell. Der Schreibprozess (Kapitel 2.5) wird separat zur Schreibkompetenz betrachtet. Absichtlich werden beide Bereiche getrennt voneinander behandelt, auch wenn es Überschneidungen gibt. Dennoch ist die Komplexität beider Konzepte zu groß, um sie nur in einem Kapitel zu erklären. Anschließend wird der SRSD-Ansatz im Kapitel Texte schreiben mithilfe der Methode SRSD (Kapitel 2.6) ausführlich dargelegt. Darauf folgt die Vorstellung der geleisteten Voruntersuchungen (Kapitel 2.7), die gemeinsam mit den anderen Kapiteln unter Zusammenfassung des Forschungsstandes (Kapitel 2.8) gebündelt werden. Daraus ergibt sich die Untersuchungsidee (Kapitel 2.9), die zum Kapitel Fragestellungen und Hypothesen (Kapitel 2.10) führt.
Das dritte Kapitel Forschungsdesign & Methode ist klassisch in Methode (Kapitel 3.1) sowie die Vorstellung der Stichprobe (Kapitel 3.2) und der Testinstrumente (Kapitel 3.3) aufgeteilt. Es folgen daraufhin der Ablauf des Schreibprojekts (Kapitel 3.4) sowie die Trias Datenerhebung (Kapitel 3.5), Datenaufbereitung (Kapitel 3.6) und Datenauswertung (Kapitel 3.7).
Im vierten Kapitel werden die zentralen Ergebnisse aus den Untersuchungsbereichen Affect (Kapitel 4.1), Behavior (Kapitel 4.2), Content Learning (Kapitel 4.3) sowie Metacognition (Kapitel 4.4) präsentiert.
Die Ergebnisse leiten zum letzten Kapitel Diskussion & Konsequenzen des Schreibprojekts (Kapitel 5) über. Für eine bessere Übersicht wird auch dieses Kapitel in Diskussion der Ergebnisse (Kapitel 5.1), Kritische Reflexion der Studie (Kapitel 5.2) sowie in Ausblick mit Forschungsdesiderata (Kapitel 5.3) und Epilog (Kapitel 5.4) aufgeteilt.
2 Theorie & Fachwissenschaftliche Grundlagen zum Forschungsstand
Im folgenden zweiten Kapitel werden der Forschungsstand sowie die fachwissenschaftlichen Grundlagen und die damit verbundenen theoretischen Begriffe eruiert. Neben dem Begriff Schreibkompetenz wird die Schreibentwicklung anhand von Modellen und Forschungsergebnissen erläutert. Danach folgt die Spezifizierung der Schreibkompetenz vor und während der beruflichen Bildung. Die Erläuterung der Textsortenkompetenz im beruflichen Feld soll die berufliche Schreibanforderung näherbringen. Im Anschluss daran wird die Theorie des Schreibprozesses dargelegt, die die Entwicklung mehrerer Modelle miteinbezieht. Anschließend folgen die Präsentation der SRSD-Methode sowie zuvor durchgeführter Untersuchungen. Nachdem der Forschungsstand zusammengefasst ist, leitet die Untersuchungsidee die Fragestellungen und Hypothesen ein.
2.1 Schreibkompetenz und ihre Entwicklung
Eine Kompetenz beinhaltet Fähigkeiten und Fertigkeiten, die eine Person innehat und in bestimmten Situationen zeigen kann, was aber nicht immer als Performanz gesehen wird. Weinert (2001:27) spezifiziert ferner, dass Kompetenzen auch erlernt werden können und die zugrunde liegenden Fähigkeiten und Fertigkeiten mit motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften verknüpft sind, die in Situationen variabel eingesetzt werden.
Beispiel: Ein Skifahrer wird im Sommer die Fähigkeit des Skifahrens nicht am Strand zeigen können. Es ist eine Kompetenz, die er erlernt hat und in der Situation des Winterurlaubs mit Schnee als Performanz einsetzen kann.
Kompetenz ist somit ein gesichertes Wissen und Können (Thomas, 2007:94). Die Psychologen ordnen diesen Begriff als „Dispositionen“ (Sieland & Rahm, 2007:199) oder „latente Antwortbereitschaften“ (ebd.) ein. Ein gelerntes Verhalten kann folglich im „Verhaltensrepertoire“ (Winkel/Petermann & Petermann, 2006:191) vorhanden sein, wird aber erst in der „Verhaltensperformanz“ (ebd.) sichtbar.