Für den beruflichen Textproduktionsprozess werden erst im Laufe der beruflichen Erfahrungen Fähigkeiten sowie „[…] fachbezogene, rhetorische, textsorten-, adressaten- oder medienspezifische“ (Jakobs, 2005:23) Kompetenzen entwickelt. Die kooperative Textproduktion ist ein Teil davon, denn gerade im beruflichen Alltag zirkulieren Textentwürfe, bevor sie versandt werden – das sogenannte „Document cycling“ (Jakobs, 2005:24) ist gängig, um dem betrieblichen Qualitätsanspruch der Texte zu genügen:
[…] Schärfer formuliert, ist fehlende Text- und Schreibkompetenz ökonomisch nicht vertretbar. Defizitäre Darstellungen erhöhen den zeitlichen, kognitiven und emotionalen Rezeptionsaufwand des Adressaten. Sie erzeugen nicht nur Frust und zusätzliche Arbeitszeit, sondern häufig auch Fehlleistungen aufgrund unpräziser, fehlerhafter oder unvollständiger Informationen sowie zeitlichen und monetären Mehraufwand durch ‚Reparaturversuche‘ defizitärer Kommunikationsarbeit (Jakobs, 2008:3).
Das Schreiben in der beruflichen Bildung entsteht durch die Verbindung von berufsschulischen Anforderungen, beruflichen Anforderungen im Ausbildungsbetrieb und der Branche. Es wird unterstützt durch das Vorwissen der Berufsschüler aus der vorherigen Schulinstanz, das Elternhaus sowie durch selbst erlebte Erfahrungen. Deutsch am Arbeitsplatz betrifft alle sprachlich kommunikativen Anforderungen im Beruf. Obwohl schriftliche Kommunikation im Berufsalltag gefragt ist, wird die Verantwortung für ihre Vermittlung vorrangig an Schulen abgegeben.
Während die allgemeinbildenden Schulen in erster Linie schulische Textsorten vermitteln, sollen die Berufsschulen in Ausbildungsklassen die beruflich relevanten Textsorten unterrichten (siehe folgende Abbildung): „Ihre Vermittlung ist – aus Sicht der Institution Schule – Aufgabe nachgelagerter Ausbildungsinstanzen. Der Kreis gegenseitiger Verantwortungszuweisung ist schwer zu durchbrechen“ (Jakobs, 2008:4, siehe Abb. 12).
Gerade an Berufsschulen ist in der dualen Berufsausbildung wenig Zeit für die Vermittlung von beruflichen Schreibkompetenzen, in den Betrieben noch seltener (ebd.). Schreibkompetenz wird viel mehr durch learning by doing oder copy and paste vermittelt (ebd.). Die Phasen der Schreibsozialisation in Institutionen verdeutlichen visuell, dass die abgebende schulische Instanz notwendige Schreibkompetenzen bei den Schülern aufbaut, die in der nächsten Instanz wie Betrieb oder Universität benötigt werden. Damit nimmt der Schreibunterricht in der Sekundarstufe I eine enorm wichtige Rolle ein. Nicht aufgebaute Schreibkompetenzen können in nur knappen Zeitfenstern weiter gefördert werden (Jakobs, 2008:4).1
Phasen der Schreibsozialisation (Jakobs, 2008: 4)
Die Fachstelle Berufsbezogenes Deutsch, die vor allem den Blick auf Arbeitnehmer mit Deutsch als Zweitsprache und ihre Förderung im Fokus hat, erklärt diese Anforderung genauer:
Der berufsbezogene Deutschunterricht greift verschiedene kommunikative Anforderungen auf, die Bestandteil des Arbeitslebens sind […]. Um solche sprachlichen Anforderungen zu bewältigen, müssen die jeweiligen Sprecher_innen über eine ganze Reihe von kommunikativen Kompetenzen verfügen: Der inhaltliche Aufbau von Fachtexten und Arbeitsanweisungen muss ihnen ebenso geläufig sein wie das darin enthaltene Vokabular. Darüber hinaus ist es notwendig zu wissen, wie mit Kund_innen, Kolleg_innen oder Vorgesetzten gesprochen wird und die entsprechenden umgangssprachlichen, formalen oder höflichen Sprachformen und Register anwenden zu können (Fachstelle Berufsbezogenes Deutsch, o.J.: o. S.).
Mit dieser Erläuterung wird klar, dass sich diese auch auf die Auszubildenden in einer Berufsausbildung und die damit verbundenen schriftlichen sowie mündlichen Anforderungen im Beruf bezieht. Die Schreibanforderungen in der beruflichen Bildung werden zum einen durch den Rahmenlehrplan für die Berufsschulen von der Kultusministerkonferenz vorgeschrieben. In diesem erhalten die Berufsschullehrer Hinweise, welche Textsorten und Schreibanlässe in welchem Jahr gelehrt werden müssen. Eigene schulinterne Lehrpläne lehnen sich an die Rahmenlehrpläne an. Das Bundesministerium der Justiz schreibt in der Ausbildungsverordnung durch den integrierten sachlichen Ausbildungsrahmenplan die Vermittlung bestimmter Textsorten direkt und indirekt vor – indirekt deswegen, da manchmal auch nur Schreibanlässe genannt werden, die jedoch in der Berufspraxis bestimmte Textsorten erfordern. Die Kammern als dritter bildungspolitischer Akteur der dualen Berufsausbildung verlangen durch die Abschlussprüfung das Schreiben bestimmter Textsorten als abprüfbare Performanz. Es soll an dieser Stelle noch einmal betont werden, dass nicht nur die Produktion diverser Textsorten zu bestimmten berufstypischen Schreibanlässen, sondern auch rezeptive Kompetenzen, wie das Lesen und Verstehen der Texte, in der Ausbildung gefördert werden sollen (Giera, 2010:25f.). Ein Großteil der Schreibanforderungen in der dualen Ausbildung wird durch diese drei bildungspolitischen Akteure vorgegeben. Der Ausbildungsbetrieb und die Berufsschule greifen diese Schreibanforderungen in diversen Lernfeldern, die handlungsorientiert aufgebaut sind und einen beruflichen, rechtsrelevanten Bezug haben (Czycholl & Ebner, 1995), im Zuge der von der Kultusministerkonferenz eingeführten Lernfelddidaktik auf (KMK, 1996).
Der heutige Forschungsstand im Bereich der Schreibanforderungen und -kompetenzen in der beruflichen Bildung zeigt, dass sich ein recht junges Forschungsfeld etabliert hat, um einerseits den Status quo empirisch abzubilden und andererseits schreibdidaktische Maßnahmen zu empfehlen (noch ausführlicher unter Neumann & Giera, 2018:333ff.):
Wyss-Kolb konnte mit ihrer Dissertation „Was und wie Lehrlinge schreiben? Eine Analyse von Schreibgewohnheiten und von ausgewählten formalen Merkmalen in Aufsätzen“ (Wyss-Kolb, 1995) durch die Inhaltsanalyse von 88 Aufsätzen deutschsschweizer Lehrlinge in den 11. und 12. Klassen, 15 Doppellektionsaufsätzen sowie 13 Maturaaufsätzen und 30 einstündigen Aufsätzen von Zürcher Berufsschülern nachweisen, dass die Texte durchschnittlich 285 Wörter lang und die von Gymnasiasten signifikant kürzer sind. Mittels qualitativer Fehleranalyse nach dem Zürcher Textanalyseraster wurde dabei die sprachsystematische und orthografische Richtigkeit in den Schülertexten untersucht (Wyss-Kolb, 1995:12). Obwohl die grammatische Fehlerdichte bei den Berufsschülern im Vergleich zu den Gymnasiasten doppelt so hoch war, waren 93 % der Texte formal korrekt und wiesen geringe semantische Fehler auf (Wyss-Kolb, 1995:107, 142, 272). Fehlerschwerpunkte waren überwiegend Flüchtigkeitsfehler, Kommafehler, Dispositionsfehler (Textentfaltung und Kohärenz) sowie Fehler in der Wortwahl, Syntaxfehler oder eine nicht leserfreundliche Struktur (Wyss-Kolb, 1995:22). Eine anschließende Befragung der Lehrlinge (n = 128) verdeutlichte, dass mehr pragmatische Schreibaufgaben wie das Schreiben von Bewerbungen und Beschwerden von Berufsschullehrern gestellt werden sollten, wie im folgenden Zitat zur Geltung kommt:
Deutlich erkennbar ist ferner das Postulat, das Fach – analog zum Deutschunterricht an der Berufsschule – stärker an Lebenskundlichem und Nützlichem zu orientieren. Die jungen Frauen und Männer möchten ‚Techniken lernen, um sich im Leben sprachlich besser zurechtzufinden‘, wünschen sich ‚mehr Alltagsdeutsch (Beschwerden, Bewerbungen)‘, überdies vermehrt auf aktuelle Probleme und Ereignisse oder den Beruf bezogene Diskussions- und Aufsatzthemen […]. Es lässt sich also eine gewisse Diskrepanz feststellen zwischen dem eher an humanistisch geprägten Bildungsidealen orientierten Unterricht und den Erwartungen einer an Lebens- und Praxisnähe interessierten Schülerschaft (Wyss-Kolb, 1995:41).
Des Weiteren stellt Wyss-Kolb in ihrer Untersuchung heraus, dass die Schüler nicht prinzipiell ungern längere Texte schreiben würden, der Aufsatz unliebsam sei und eher Geschäftsbriefe, Prüfungen oder Hausaufgaben verfasst würden (Wyss-Kolb, 1995:72). Zwei von fünf Lehrlingen schreiben demzufolge ungern und selten, obwohl sie am Arbeitsplatz täglich schreiben müssen (Wyss-Kolb, 1995:66, 271).
Fleuchhaus