«Jetzt hör aber auf, ich bitte dich!» erwiderte Severin streng. «Und übrigens bist du ja auch da, nicht wahr, du läufst auch mit, das ist sehr konsequent!»
«Ja, das ist ein Fehler», gab Paul zu. «Ich kehre jetzt um und werde mit dem nächsten Zug heimfahren, ich habe genug.» Er hob lässig grüßend die Rechte, nickte Fred noch zu und ging wirklich fort.
Fred lief ihm nach und suchte ihn zurückzuhalten. «Bleib doch, es ist ja ganz egal, wie du denkst!»
«Ach, es ist weniger wegen der Konsequenz», sagte Paul abschwächend, «aber ich bin nicht für Volksaufläufe …»
«Jaja, es ist ein elender Rummel!»
In diesem Augenblick, eben als der kaiserliche Wagen auf dem holprigen Wege langsam anfuhr, rief Severin dringend: «Fred, komm! Vorwärts, vorwärts!»
«Laß ihn doch laufen!» riet Paul. «Komm du mit mir, wir wollen aus dem Rummel heraus.»
«Ach was, wir wollen doch beisammen bleiben», erwiderte Fred ärgerlich, ohne sich zu rühren, und sah mit finsterer Miene zu, wie Paul ihn freundlich nickend verließ und Severin dem Kaiser nachlief.
Paul schlenderte den Weg zurück, kam am südlichen Fuß des Feldherrnhügels vorbei und schlug die Richtung auf Batzenheid ein, in das Thurtal hinab, wobei er zwischen den östlichen Flügeln der beiden Fronten einer auffallenden Reitergruppe begegnete. Zuerst hörte er nur die rasch herantrabenden Pferde und wich in Erwartung einer Kavalleriepatrouille mit dem auch hier recht zahlreichen Publikum gemächlich an den Wegrand aus.
Die Gruppe bestand aber aus fremden Offizieren, die sich in Begleitung schweizerischer Kavalleristen in diesem Abschnitt umsehen wollten. Sie kamen in ihren ungewohnten bunten Uniformen überraschend aus der nahen Kurve geritten, mit dem französischen General Pau an der Spitze, der im Deutsch-Französischen Kriege den rechten Vorderarm verloren hatte. Dieser eindrückliche Zeuge eines bedeutenden geschichtlichen Ereignisses, eine gedrungene Gestalt mit weißem Schnurrbart und energischen Zügen, kam leicht vorgebeugt auf einem prachtvollen Schimmel dahergetrabt.
Paul riß, einer unüberlegten Regung folgend, den Hut vom Kopf und schrie, völlig gegen seine stille Art: «Vive la France!»
Der General hing die Zügel über den waagerecht vorstehenden Armstummel und legte grüßend die Linke an den Mützenrand.
«Vive la France!» wiederholte Paul mit Überzeugung, von den Zuschauern laut und bereitwillig unterstützt, während die Gruppe vorübertrabte und auf dem vielfach geschlungenen Wege hinter der nächsten grünen Böschung verschwand.
Indessen spürte Fred einen bitteren Ärger sowohl über die Brüder, die ihn leichtsinnig verließen, wie über sich selber, weil er sich nicht hatte entschließen können, dem einen oder andern zu folgen. Aber dieser Ärger machte rasch der trotzigen Selbstbesinnung Platz, daß er nicht jeder Laune zu folgen brauche, sondern nach seinem eigenen Gutdünken handeln könne. Es war ja eine Laune, die seine Brüder auseinandertrieb, sie hatte nichts mit dem zu tun, was hier eigentlich in Frage stand, sondern nur mit dem faulen Zauber, der daraus gemacht wurde. Hier handelte es sich doch um ein ernsthaftes Manöver, zwei Divisionen kämpften gegeneinander, und Papa selber führte eine Brigade; man brauchte also nicht mit der Nase in der Luft da herumzulaufen und jede Uniform zu begaffen, man konnte sich an die sachlichen Vorgänge halten, das hatte einen Sinn und war am Ende auch ein Vergnügen.
Er verstand noch nicht sehr viel von diesen sachlichen Vorgängen, die Rekrutenschule erwartete ihn erst im nächsten Frühjahr, aber der Gedanke an Papa ermunterte ihn. Warum sollte er sich nicht an den Vater halten, der als hoher Fachmann hier mitspielte? Das wollte er nun wirklich tun, er kannte den Abschnitt ungefähr, den die Ammannsche Brigade besetzt hielt, und wollte sich nach ihrem Befehlshaber durchfragen, um von ihm endlich zu erfahren, was hier eigentlich los war. Wann und wo er ihn finden und wie er dabei auf seine Rechnung kommen würde, blieb recht zweifelhaft, die Umstände waren ihm nicht sehr günstig, doch bedachte er nun keine Schwierigkeiten. Die Hände in den Hosensäcken, den Hut auf dem Hinterkopf, einen schweizerischen Militärmarsch vor sich hin pfeifend, ging er quer durch das grüne Gelände auf die Suche nach dem Vater, während irgendwo die Menge wieder hurra, hoch und bravo schrie, da und dort Gewehre knatterten, Kanonen donnerten, Schützenlinien vorgingen, und die Sonne am tiefblauen Himmel über dem ernsten Spiel der Menschen heiter und unbeteiligt in den Mittag stieg.
I
1
«Das ist unser äußerstes Angebot, Herr Oberst. Wir halten es aufrecht bis Samstag mittag, nachher werden wir anderweitige Verfügungen treffen.» Der Präsident der Baugenossenschaft, ein wohlgenährter, sorgfältig gekleideter Mann, verharrte in der leicht vorgebeugten Haltung, in der er diese Worte gesprochen hatte, und blickte den Oberst verbindlich lächelnd an.
Oberst Alfred Ammann schloß seine Ledermappe, rückte mit dem Stuhl etwas vom Tische weg und lächelte ebenfalls. Er wußte so genau wie der Präsident, wie wenig diese Frist zu bedeuten hatte, aber während er sonst in Verhandlungen eine gewisse geschäftliche Taktik anerkannte und ernsthaft darauf einging, stellte er sie jetzt bloß, da ihm die Sache selber zu wichtig war. «Anderweitige Verfügungen …», antwortete er mit ironischer Nachsicht, «die stehen Ihnen heute schon frei … Es handelt sich für Sie nicht darum, ob Sie überhaupt bauen wollen, sondern ob Sie auf meinem Platze bauen können.»
Der Präsident zuckte freundlich die Achsel und lehnte sich zurück.
«Herr Nationalrat», begann der Dritte am Tisch, Anwalt der Genossenschaft, ein klug aussehender jüngerer Mann, der von Ammanns Offiziersrang weniger hielt als von seiner politischen Stellung, mit Unrecht übrigens, «so rasch werden Sie kein solches Angebot mehr erhalten … und später … kein Mensch kann sagen, ob sich die Stadt nicht nach einer andern Seite hin ausdehnen wird. Heute wissen Sie noch so genau wie wir, daß ein altes Haus an einem solchen Platze nicht zu retten ist. Ich will Ihnen nicht vorrechnen, was dieser feudale Sitz Sie jährlich kostet, aber wenn man unser Angebot bedenkt, wird kein Mensch glauben, daß Sie sich auf die Dauer so etwas leisten wollen.»
Ammann beachtete weder die Worte des Anwalts, noch den Anwalt selber. Er saß, den gelben Bürolehnstuhl füllend, die Beine nach der Art beleibter Leute bequem auseinandergestellt, die Unterlippe nachdenklich vorgeschoben, in stummer Sammlung da; es schien, als ob er sich im nächsten Augenblick entschließen werde. Er stand aber gelassen auf, griff nach seiner Mappe und reckte sich. Er war ein starkgebauter Mann von mittlerer Größe und unauffälliger Korpulenz, mit glattrasiertem, vollem Gesicht, kurzgeschorenem, dichtem, dunkelgrauem Haar und kräftig glänzenden, klugen Augen. «Schön, meine Herren», sagte er und nahm damit Abschied, «ich werde Ihnen wieder berichten.»
Er trat auf eine belebte Straße hinaus und hatte kaum die Richtung nach Hause eingeschlagen, als er auch schon gegrüßt wurde. Ein untersetzter, ebenfalls sehr wohlgenährter Mann hielt, die Straße querend, mit dem Rufe «Herr Oberst!» fröhlich gelaunt den Hut in der erhobenen Rechten. Ammann kehrte bei seinem Anblick sogleich sein wahres Wesen heraus, ein heiteres, leutseliges Wesen, das bei aller Intelligenz und männlichen Bestimmtheit am liebsten mit der ganzen Welt im Frieden lebte. Er gab den Gruß ebenso fröhlich zurück, indem er seinen breitkrempigen runden Filz auf burschikose Art weit ausladend zur Seite schwang, dann setzte er seinen Weg aufrecht und strammen Schrittes fort.
In einer stillern Seitenstraße ließ er sich Zeit und bedachte flüchtig seine Lage. Er war entschlossen, den Grundbesitz nun endlich zu verkaufen, aber irgend etwas ging in der Rechnung nicht auf, ein alter, widerstrebender Rest, den keine zahlenmäßige Bestimmung erfaßte. Dieser dunkle Widerstand, den er blindlings unterdrückt hatte, weil er gegen jede vernünftige Einsicht gerichtet schien, ließ ihn auch jetzt wieder ahnen, daß er mit dem Familiensitz mehr verkaufen werde als einen guten Bauplatz.
Er bog in eine leicht ansteigende, breite, geräuschvolle Straße ein und schlug eine strammere