Etwas großartig Spannendes und zugleich schon unheimlich Entschiedenes drang aus der bedruckten Seite auf ihn ein, der Anfang eines noch gar nicht übersehbaren Geschehens, das auf vernunftwidrige oder doch beängstigend dunkle Art alle Völker zu ergreifen drohte. Die gewaltsame Auseinandersetzung zwischen Österreich und Serbien stand unmittelbar bevor, die diplomatischen Beziehungen waren abgebrochen, die österreichische Gesandtschaft hatte Belgrad verlassen, die serbische Armee wurde mobilisiert. Aus Petersburg kam die unverhüllte Erklärung, Rußland fühle sich durch die Maßnahmen der Wiener Regierung provoziert und sei nicht mehr imstande, eine gleichgültige Haltung zu bewahren. In allen Hauptstädten wuchs sich die Spannung zu einer fieberhaften Bereitschaft aus, überall reisten Monarchen, Minister, Diplomaten heim auf ihre Posten, und die europäische Presse betonte wie aus einem Mund die schwere Bedrohung der internationalen Lage.
Paul, der mit seinem Urteil diesen Anzeichen der nahenden Katastrophe so unzulänglich gegenüberstand wie jedermann, faltete das Blatt zusammen und ging erregt mit beschleunigten Schritten weiter. Er hatte heimlich nie befürchtet, daß etwa der Sturm ausbrechen, sondern im Gegenteil, daß er sich verziehen könnte, wie er denn meinte, daß in Europa seit Jahrzehnten alles Verheißungsvolle, groß Begonnene und Elementare immer wieder im Sande verlaufen sei. Jetzt endlich schien etwas Mächtiges wirksam zu werden, das die Menschen nicht mehr ihren blöden Zwecken vorspannen konnten.
In der Nähe des Hauses sah er sich zwischen leicht- und hellgekleideten Passanten plötzlich der auffallend gewichtigen schwarzen Gestalt seines Vaters gegenüber.
«Ah, Paul … eh … hast du etwa das Extrablatt?» fragte Ammann flüchtig und schon bereit, weiterzugehen. «Aha, schön, danke! Wollte es eben auch holen.» Er kehrte um und fragte leichthin, während er das Blatt aufschlug und, stehen bleibend, einen ersten Blick hineinwarf: «Und wie ist die Lage?»
«Ach …», sagte Paul unbestimmt, mit einem Achselzucken, und blieb scheinbar gelangweilt ebenfalls stehen.
Ammann begann, ohne eine Antwort zu erwarten, die hervorstechenden Nachrichten zu lesen, dann setzte er sich, immerfort lesend, mit einem Ausdruck steigender Sorge an Pauls Seite langsam wieder in Bewegung.
Paul beobachtete ihn unbemerkt, er sah, wie er die dicke Unterlippe vorschob und die Stirn runzelte, wie in seinen leuchtkräftigen Augen ein leises Erschrecken aufglomm und wie er schließlich mit einer nachdenklichen Verdüsterung seines satten, selbstzufriedenen Gesichtes einen Augenblick vor der Haustür stehen blieb. «Riechst du, wie es brenzelt»? dachte er. «Es ist euere Welt, die zu brennen anfängt und hoffentlich einstürzen wird, euere zivilisierte, sichere, fortschrittliche Welt! Löscht jetzt, wenn ihr könnt!» Er schloß die Tür auf, ließ den Vater eintreten und folgte ihm, von einer unvernünftigen wilden Genugtuung erfüllt.
8
Nachdem das festliche Treiben dieses Tages um die abendliche Essenszeit einen kurzen Unterbruch erfahren hatte, setzte es beim Anbruch der Dunkelheit im strahlenden Flitterglanz der Budenstadt wieder ein und erreichte einen neuen Höhepunkt in der Festhütte, wo die Vereine des Orts mit wechselnden Darbietungen die Bühne betraten. Fred saß in Gesellschaft an einem der langen Tische und hörte dem Gespräch zu, das zwischen Christian und anderen Schützen im Gange war.
«Nein, heute wurde nicht besonders gut geschossen, wenigstens in den Hauptstichen», erklärte Christian. «Das höchste Resultat in der ‹Kunst› hat immer noch Brunner mit 443 Punkten. In der ‹Meisterschaft› steht vorläufig Otter mit 23 Nummern an der Spitze.»
«Das sind schöne Resultate!» erwiderte sein Nachbar, ein großer, magerer Mann mit einem herben Gesicht von bäuerlichem Schnitt und verständigem Aussehen, ein Wagner namens Eckert. «Am letzten Kantonalen stand Eggmann in der ‹Kunst› mit 450,5 Punkten im ersten Rang. Und auf mehr als 23 Nummern hat’s in der ‹Meisterschaft› doch keiner gebracht.»
«Ja … aber die Gefährlichsten fangen erst an. Reich, Meister, Fenner, Tobler und andere waren noch gar nicht da. Und Ihr», fügte er mit einem Lächeln bei, «habt’s auch noch nicht gewagt.»
«Papapapa … ich komme nicht mehr in Frage. Wenn ich’s auf 20 Nummern bringe, bin ich wohl zufrieden. Aber an dir ist es jetzt! Wenn einer schon am ersten Tag in der Serie 24 Nummern schießt, dann …»
«Jaja, liegend wär’s zu machen, aber in allen drei Stellungen … das ist eine andere Sache.»
«Ach, er hat daheim ja schon wochenlang Zielübungen gemacht», warf hier Lisi vorlaut ein.
«Das ist ganz in Ordnung!» erklärte Eckert entschieden, mit einem scherzhaft verweisenden Beiklang. «Wer nicht übt, bringt’s zu nichts. Unsere Meisterschützen machen täglich Zielübungen …»
Bei diesen letzten Worten dämpfte er die Stimme, denn jetzt wurde es in der Hütte dunkel, und auf der Bühne erschien im schwankenden Rot des bengalischen Lichtes die Winkelriedszene, ein vom Turnverein gestelltes «lebendes Bild». Der Held lag, von einer Anzahl kniender und stehender Eidgenossen umgeben, mit einem an die Brust gedrückten Bündel feindlicher Speere sterbend in den Armen eines jungen Kriegers. Die regungslose mehlweiße Gruppe verdämmerte, starker Beifall setzte ein, der Vorhang fiel und das Licht wurde wieder angedreht, während sich im Zuschauerraum schon die Mitglieder des Männerchors erhoben, die nun drei Lieder vorzutragen hatten.
«Ein verrücktes Resultat», begann Christian wieder, «hat am Samstag Stähli im Schnellstich geschossen, 78 Punkte, und unmittelbar vorher das Maximum in der Gruppe.»
«Schon gehört!» antwortete Eckert. «Der Stähli ist ein ganz hervorragender Schütze! Wie steht’s übrigens bis jetzt mit den Gruppen und Sektionen?»
«Vier sehr gute Resultate hat eine Tessiner Gruppe von Bellinzona. Von den Sektionen kann man noch nicht viel sagen. Neumünster, Winterthur und Zürcher Stadtschützen haben allerdings bis jetzt fast nur Kranzresultate.»
Fred hörte aufmerksam zu, obwohl ihm die genannten Punktzahlen keinen Begriff vom Wert der Resultate vermitteln konnten; er hatte im Militärdienst wohl schießen und treffen gelernt, doch auf den ausgeklügelten Plan eines Schützenfestes verstand er sich nicht. Er sah aber ein, daß die Schützen selber das Fest anders beurteilten als die Bummler, und daß sie hier nicht zur Belustigung erschienen, sondern zum Wettkampf, der eine ernstliche Anspannung erforderte und erstrebenswerte Folgen haben mußte. Der gute Schütze wurde ja berühmt, und dieser Ruhm konnte sich nicht auf ein bloßes Vergnügen beziehen, sondern nur auf gewisse gesteigerte Fähigkeiten, die ihren Träger vor seinen Volksgenossen auszeichneten, auf seine sichere Hand also, sein scharfes Auge, seine Geduld und Selbstbeherrschung. Jede Ortschaft, jede Gemeinde vermerkte es mit Genugtuung, wenn einer ihrer Angehörigen oder ihre Gruppe, ihre Sektion, einen so offenen, allgemeinen Wettkampf siegreich bestand, und aus dem Bewußtsein des ganzen Volkes war die Tatsache nicht zu tilgen, daß die Schweiz die besten Schützen der Welt besaß.
Nach den Liedern des Männerchors erhob sich Christian gemächlich, nickte der Tischgesellschaft zu und wollte gehen.
«He he!» widersprach Eckert. «Was ist mit dir? Grad so ohne weiteres läuft man jetzt nicht fort!»
Dasselbe wurde Christian noch von anderen Bekannten zugerufen, so daß er schließlich gestand, er wolle morgen früh mit dem Schießen beginnen. «Wenn man nicht richtig ausgeschlafen hat», sagte er, «dann braucht man gar nicht