Fred wandte seine Aufmerksamkeit von neuem dem Oberstleutnant zu, der mit unveränderter Anspannung diesen Teil seiner Serie zu Ende schoß. Er begriff jetzt, daß hervorragende Resultate eine Zucht des Willens voraussetzten, von der sich Laien kaum eine Vorstellung machten, daß jeder einzelne Schuß dabei von entscheidender Wichtigkeit war und immer wieder denselben Aufwand von Kraft, Geduld und Selbstbeherrschung erforderte, einen Aufwand, den jedenfalls das tägliche Leben nur selten verlangte.
Sogleich nach dem zehnten Schuß stand Fenner auf, trat zum Warnerpult und blickte mit einer beiläufigen Kopfbewegung, doch mit drohender Miene, nach der Scheibe zurück, wo abermals die rote Kelle erschien, dann unterschrieb er sein ungewöhnliches Resultat von zehn Nummern. «Bravo! Bravo!» sagten die Schützen. Fenners hartes Gesicht trug einen Schimmer ironischer Zufriedenheit, doch er schien den Beifall kaum zu beachten und unter den Zuschauern keinen Bekannten zu besitzen, er musterte sie nur mit einem kurzen, beinah spöttischen Blick seiner nüchternen kleinen Augen, stellte das Gewehr schweigend in den Rechen und begann, die Arme verschränkt, die Rechte am linken Schnurrbartzipfel, die Schießenden zu beobachten, als ob nichts geschehen wäre.
«Herrgott, ist das ein trockener Patron!» dachte Fred. «Ein ungemütlicher Kerl! Aber im Kriegsfall, als Regimentskommandant … mit so einem wäre man auf jeden Fall nicht lackiert.»
Er bummelte durch den Stand und blieb neugierig bei einer Gruppe von Schützen stehen, in der ein untersetzter, fester Mann von strammer Haltung laut schimpfte und fluchte, während er mit dem Handrücken auf eine Seite seines Schießbüchleins klopfte; bei diesem Schuß, erklärte der Aufgeregte, sei es nicht mit rechten Dingen zugegangen, er habe ihn genau so abgegeben wie den vorhergehenden, und da werde ihm nun «so en Saucheib» gezeigt, den er gar nicht geschossen habe, das sei ihm denn doch noch nirgends passiert, er wisse auch, wann er gefehlt habe und wann nicht.
Fred ging lächelnd weiter. Er wußte wohl genug, daß es auch unter den Schützen Lärmer und Aufschneider gab, doch er machte den Fehler nun nicht mehr, ihrem lauten Wesen mehr Gewicht beizulegen als den Stillen und Bescheidenen, wie er denn überhaupt vom Schützenfest eine andere Ansicht gewonnen hatte.
Im rechten Flügel fiel ihm wieder eine kleine Ansammlung von Schützen auf, die einen Gewehrrechen belagerten, er trat hinzu und erkannte freudig aufgeregt seinen Vetter, der liegend mit vier Nummern den letzten Teil seiner Meisterserie begonnen hatte. Sogleich drängte er sich vor, bis er Christians ganze Rückseite bequem überblicken konnte, die gespreizten, fest an die Matte geschmiegten kräftigen Beine in den abgetragenen schwarzen Hosenröhren, die gestrickten grauen Socken, die darunter zum Vorschein kamen, die schweren Schuhe, den tanngrünen, an den Schultern straff gespannten Jagdrock, den von dunkelblondem, leicht gekräuseltem Haare dicht bewachsenen runden Kopf und die wulstigen kleinen Ohren.
Hinter dem angehenden jungen Meisterschützen häuften sich die Zuschauer, die nach jedem Nummerntreffer in gedämpftem Ton anerkennende Bemerkungen tauschten oder einander bedeutsam anblickten und gespannt auf den nächsten Schuß warteten.
Christian schoß ruhig und gleichmäßig in einer Art von hypnotischer Sammlung, die jeden Gedanken an seine Zuschauer, an die nahende Entscheidung oder die Bedeutung der Meisterschaft ausschloß und einzig darauf gerichtet war, den Schuß ohne Zielversehen sorgfältig abzudrücken. Nach der siebenten Nummer aber hörte er plötzlich, wie hinter ihm laut gefragt wurde «wieviel muß er noch?», wie ein paar nähere Stimmen antworteten «noch zwei!», und wie jemand unwillig in unterdrücktem Tone Ruhe verlangte. In diesem Augenblick erwachte er gleichsam und wußte, daß er im Begriffe war, die heißbegehrte kantonale Meisterschaft zu erringen, daß ihm nur noch zwei Nummern fehlten, und daß hinter seinem Rücken ein dichtgedrängter Haufe von Schützen stand, die ihm gespannt zuschauten. Er runzelte die Stirn und suchte diese Vorstellungen zu verscheuchen, aber sowie er wieder zu zielen begann, merkte er, daß er schon unruhig geworden war. Trotzdem zielte er nicht länger als sonst und gab den Schuß auch scheinbar richtig ab, blickte aber nicht mehr so gleichgültig wie bisher auf die Scheibe nach dem Resultat aus, sondern ängstlich, zweifelnd, erregt. Die weiße Kelle erschien, zum erstenmal nach sieben roten Kellen, und wirkte auf ihn wie ein Schlag in die Herzgegend; er hatte die Nummer gefehlt.
Die meisten Zuschauer warfen einander schweigend mit bedenklicher Miene kurze Blicke zu, jemand sagte «oha!», und nur wenige äußerten ein paar Worte; unter diesen wenigen war ein grauhaariger, griesgrämig blickender Mann, der seine Schadenfreude nicht verbergen konnte, eine überflüssige Bemerkung machte und dann mit offenem Mund und einem spöttisch zugekniffenen Auge lautlos vor sich hin lachte. Fred blickte ihn wütend an und verspürte eine grimmige Lust, ihm die Faust ins Gesicht zu hauen.
Indessen hatte Christian das Gewehr wieder angeschlagen, doch er wußte jetzt, daß ihm für die zwei fehlenden Nummern nur mehr zwei Patronen zur Verfügung standen und daß somit alles von diesen beiden letzten Schüssen abhing. Die Luft flimmerte ein wenig vor seinem zielenden Auge, und dies von der Sonne oder vom erhitzten Gewehrlauf herrührende Flimmern, das ihn bisher nicht ernstlich gestört hatte, verwischte ihm jetzt den Umriß des runden Schwarzen. Er schloß die Augen und wartete ein wenig, dann zielte er wieder und löste den Schuß; im selben Augenblick wußte er, daß beim Abdrücken das Korn um Haaresbreite zu weit rechts gestanden hatte. «Gefehlt!» dachte er erzürnt, entmutigt, riß den Verschluß zurück und wagte kaum nach der Scheibe hinzusehen. Da erschien doch die rote Kelle, nicht so entschieden auf die Mitte geworfen wie sonst, sondern vom Weißen her zögernd in den rechten Rand des Schwarzen hineinschleichend; die Nummer war knapp getroffen. «Donnerwetter, das ist gnädig abgelaufen!» dachte er, völlig aufgeheitert, und legte mit einem schüchternen, verwunderten Lächeln die letzte Patrone ins Magazin. Er war überzeugt, daß er die Nummer gefehlt hätte, ohne jenes Körnchen Glück, das auch der tüchtigste Schütze bei letzten Entscheidungen nicht entbehren möchte. Dies gab ihm seine Zuversicht zurück. Mit einer entschlossenen Bewegung zog er das Gewehr an die Schulter, rückte sich mit den Beinen in die bequemste Lage und schaute einen Augenblick ins Grüne hinaus, dann begann er zu zielen und verschob mit dem Zeigefinger den Abzug behutsam zum Druckpunkt.
Auf die Zuschauer hatte nach dem Fehlschuß der beinah noch einmal mißlungene Treffer eine gegenteilige Wirkung ausgeübt und die Spannung noch erhöht. Jeder dieser Schützen glaubte den Zustand zu kennen, in dem Christian sich jetzt befand, und wußte aus Erfahrung, daß beim geringsten Fieber gerade dieser entscheidende letzte Schuß am häufigsten mißlang. Sie drängten sich enger zusammen, die vordern wurden gegen den Gewehrrechen gepreßt und die hintern stellten sich auf die Zehen, während die nächsten mit unverwandtem Blick das anfängliche leise Schwanken der Laufmündung beobachteten, um daran den Fiebergrad des Schützen abzulesen, und festzustellen, ob im Augenblick der Schußabgabe das Korn gezittert, seitlich ausgeschlagen oder völlig geruht habe.
Fred, der eingeklemmt am Gewehrrechen stand, teilte nicht nur die allgemeine Spannung, sondern erlebte sie gesteigert auf eine intimere, persönlichere Art, ja er empfand sie fast eifersüchtig als sein Vorrecht und musterte bald diesen, bald jenen Drängenden mit einem verächtlichen Blick. Der Fehlschuß hatte ihn den Zuschauern gegenüber in eine gereizte Stimmung versetzt, während seine Anteilnahme an Christians Endkampf sich in das herzlichste Mitgefühl verwandelte. Er schaute dem Vetter zu, wie er nun das Gewehr zum letzten Schuß anschlug, und flehte die fehlende Nummer inständig herbei, ja er richtete diesen Wunsch mit gesammelter Kraft dermaßen eindringlich auf den Zielenden, als ob er ihn damit beeinflussen könnte. «Triff, Christian, triff!» dachte er angestrengt. «Du mußt die Nummer unbedingt treffen, du mußt, du mußt!»
In diesem Augenblick krachte der Schuß, zu früh für Freds Gefühl, und auch für die übrigen Zuschauer einigermaßen unerwartet, weil alle damit gerechnet hatten, Christian werde sich jetzt nicht übereilen, sondern das Zielen noch einmal unterbrechen. Fred hielt den Atem an und wartete mit beklemmender Angst und höchster Spannung auf das Erscheinen der Zeigerkelle. Rings um ihn herrschte eine lautlose Stille, in der sowohl er wie die übrigen Zuschauer das fortgesetzte Knattern der Schüsse nicht mehr zu hören schienen. Christian selber richtete sich halbwegs auf und blickte regungslos nach der Scheibe.
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