Schweizerspiegel. Meinrad Inglin. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Meinrad Inglin
Издательство: Bookwire
Серия: Meinrad Inglin: Gesammelte Werke in zehn Banden. Neuausgabe
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783857919954
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Es war brütend heiß.

      «Paul ist nämlich als Pressevertreter da», erklärte Fred. «Es kommt alles in die Zeitung, was da läuft.»

      Paul warf seinem Bruder schweigend einen kurzen, spaßhaft geringschätzigen Blick zu, während Christian mit einem leisen, vorsichtigen Lächeln Paul ansah, den er mehr aus dem Familienklatsch als aus eigener Erfahrung kannte.

      «Das ist ja übrigens ein höllischer Betrieb», fuhr Fred fort. «Also wie lange dauert das Fest?»

      «Zehn Tage», antwortete Christian, während er wieder eine sachlich ernste Miene annahm. «Es hat am Freitag begonnen. Aber ein solcher Betrieb ist natürlich nicht an jedem Tag.»

      «Ja, aber geschossen wird doch zehn Tage lang von morgens bis abends auf alle sechzig Scheiben?»

      Christian nickte.

      «Wieviele Sektionen sind eigentlich angemeldet?»

      «Hundertdreißig und rund vierhundertvierzig Gruppen, zusammen etwa viertausend Mann. Dazu kommen noch die Einzelschützen, die nicht angemeldet sind.»

      «Und wie hoch ist die Plansumme?»

      «Zweihunderttausend Franken.»

      «Zwei-hundert-tausend? Die Plansumme», erklärte Fred, zu Paul gewandt, «ist nämlich der voraussichtliche Umsatz beim Schießen, abgesehen vom ganzen übrigen Betrieb. Mach dir einen Begriff davon!»

      Christian lächelte, weil Fred offenbar bestrebt war, seinem Bruder das Fest so großartig wie möglich darzustellen.

      «Und wieviel Schützenfeste werden jährlich in der Schweiz abgehalten?» fragte Fred weiter. Er ging zu seinem Vergnügen jetzt wirklich darauf aus, Pauls Entsetzen über das schweizerische Festleben auf die Spitze zu treiben, wobei seine eigene Stellung dazu unentschieden blieb.

      «Das kann ich jetzt kaum so genau sagen», antwortete Christian, der den Hintergrund dieses Fragespiels nicht zu erkennen vermochte. «In der ganzen Schweiz werden jedes Jahr etwa fünf oder sechs solche Kantonal-Schützenfeste abgehalten. Aber daneben gibt es jährlich noch Dutzende von kleineren Schützenfesten, vielleicht vierzig bis fünfzig …»

      «Tatsächlich?» fragte nun Paul selber.

      «Das ist bei weitem nicht alles!» rief Fred. «Zu den Schützenfesten kommen bekanntlich noch Sängerfeste, Turnfeste, Musikfeste, Schwingfeste … außerdem gibt’s fast jedes Jahr irgendein eidgenössisches Fest, wo es noch ganz anders großartig zugeht.»

      «Ja, es ist unglaublich, ganz unglaublich», sagte Paul leise und ernsthaft. «Dagegen ist nicht aufzukommen. Es ist überwältigend.»

      Während nun Fred vom Ausmaß der eidgenössischen Feste zu reden begann, gewahrte Paul eine wachsende Zahl von Schützen, die den Lorbeerkranz auf dem Hute trugen, und seine Miene erhellte sich zu spöttischer Anteilnahme. Einer dieser Schützen, der offenbar leicht betrunken war, versuchte unter dem Gelächter und den Zurufen seiner Kameraden, die ihn durch die Hütte begleiteten, unversehens eine Kellnerin zu umarmen, was ihm nur halb gelang; jetzt bummelte er weiter und kam in der Nähe vorbei, ein etwas ungeschlachter Mann in mittleren Jahren, das Gewehr unordentlich nach hinten gehängt, auf dem zurückgeschobenen Strohhut den dichtbelaubten Lorbeerkranz, dessen eine blauweiße Schleife ihm verdreht auf den Nacken herabfiel; breitspurig bummelte er vorüber und sang oder gröhlte vielmehr «Heil dir, Helvetia, Hast noch der Söhne ja …», mit einem grimmigen Ausdruck seines dicknasigen Gesichtes, als ob er jeden herausfordern wollte, der seine vaterländische Kundgebung etwa nicht ernst zu nehmen geneigt wäre.

      Fred hatte kaum ein paar vermutlich übertriebene Bemerkungen über die Höhe des Alkoholkonsums bei derartigen Festen an diesen Auftritt geknüpft, als er über zwei Tische hinweg den Onkel Robert in Begleitung Karls, Marthas und einiger ihm unbekannter Männer entdeckte. Sogleich erhob er sich und rief sie, seinen langen Arm reckend, zu Pauls Ärger laut herbei.

      Das robuste, rötliche Gesicht seines Onkels leuchtete beim Anblick seiner Neffen erfreut auf, zugleich ließ er sich zum Spaß ein wenig in die Knie fallen, als ob er einen Sprung tun wollte, und kam rasch heran. Martha folgte ihm mit einem fröhlich innigen Ausdruck, der ihr stilles Gesicht schön machte. Die Gesellschaft drängte sich grüßend und plaudernd an dem schon zur Hälfte besetzten Tisch zusammen, während gleichzeitig an allen Eingängen der Hütte ein auffallender Andrang einsetzte. Man vernahm, daß ein Gewitter im Anzug sei, es wurde auch merkbar dunkler, und schon in einer der nächsten Konzertpausen übertönte ein nahes Donnern den Hüttenlärm.

      Paul war von quälendem Unbehagen erfüllt, und während er lächeln, reden, antworten mußte, spürte er zum hundertsten Male, daß er mit diesen Leuten nichts gemein hatte und an alldem, was sie beschäftigte, niemals ernsthaft würde teilnehmen können. Er benützte ein lautes Gelächter, um Fred mitzuteilen, daß er sich drücken und in die Stadt zurückfahren werde.

      «Ach was, wart nur!» antwortete Fred. «Wir gehen nachher miteinander zum Bahnhof.»

      Paul schüttelte mit einer flüchtigen Grimasse den Kopf.

      «So wart doch wenigstens, bis das Gewitter vorbei ist!» erwiderte Fred und blickte ihn lächelnd an. Er verstand den Bruder sehr wohl, ja er vermochte ihm sein wachsendes Befremden gegenüber dem Festrummel, der nun durch dies Zusammentreffen fordernd auch nach ihnen griff, fast genau nachzufühlen. Zugleich wurde er sich bewußt, wie leicht und ungezwungen er selber mit diesen von Paul verschmähten Leuten verkehren konnte, und in diesem Augenblick fühlte er sich dem sonst bewunderten Bruder zum erstenmal überlegen. Mochte Pauls empfindsame Ausschließlichkeit auch ein geistiger Vorzug sein, oder umgekehrt der Geist zu dieser Ausschließlichkeit führen, das Volk besaß jedenfalls ein natürliches Anrecht, sich so ungeistig und trivial zu betragen wie ihm zumute war. Ob er, Fred, es mit diesem oder jenem halten möchte, das zu entscheiden fühlte er sich unfähig, er stand seinem eigenen Gefühle nach in der Mitte zwischen diesen zwei Erscheinungen, die für immer getrennt zu sein schienen und die er doch beide begriff.

      Indessen fuhren ein paar stürmische feuchte Windstöße in die auf zwei Seiten offene Hütte hinein, und die ersten Regenschauer trieben den Rest des bummelnden Volkes unter Dach. Das nun herrschende Gedränge, in dem die numerierten Aufwärterinnen sich mit verzweifelter Miene Bahn zu schaffen suchten, der heftig auf das Hüttendach rauschende Gewitterregen, die Klänge der unbeirrt weiterkonzertierenden Kapelle und der verworrene Lärm der Menge selber steigerten das festliche Treiben zu einem ungeheuren, sinnlosen Tumult. Paul fühlte sich dem in keiner Weise mehr gewachsen, und das gewohnte, ironisch abwehrende Lächeln erstarb ihm auf den Lippen. Befremdet, ja beängstigt sah er, wie dagegen seine Tischgenossen sich all dessen nicht bewußt zu sein schienen, sondern mitspielten wie selbstlose Gestalten in einem furchtbaren Traum, den er allein mit wachen Sinnen zu träumen verdammt war.

      Nachdem er sich endlich von der Gesellschaft getrennt hatte und durch den Schmutz des zertretenen Rasens mit dem hinausdrängenden Volk auf die Straße geraten war, wo die schon wieder glühende Sonne sich in den Regenlachen spiegelte, trat er mit abweisender Miene sogleich den Rückweg zum Bahnhof an. Hier mußte er sich eine ziemliche Weile gedulden, und als der Zug einfuhr, blieb ihm nichts anderes übrig, als inmitten von wohlgelaunt heimkehrenden Schützen und Festbummlern Platz zu nehmen. Er fühlte sich niedergeschlagen vom Andrang dieses Tages, den er unbeteiligt mit heiterm Spott zu ertragen gehofft hatte, und in diesem Zustande begann ihm sein eigenes Dasein fragwürdig zu erscheinen. Mochte dieses Dasein auch seine eigene innere Rechtfertigung besitzen, was half ihm das gegen jene Übermacht, die es ausschloß und vor der es so nichtig wurde wie ein Menschenleben im Bergsturz!

      Während der Fahrt stahl er sich freilich in seine gewohnte Haltung zurück, in jene Haltung eben, die halb aus Not, halb aus Einsicht, jedenfalls aber mit vollem Bewußtsein auf den Anschluß an das den Tag beherrschende Volk verzichtet. Er teilte sie mit vielen Intellektuellen aller europäischen Länder, und er war geneigt, sie zu übertreiben, wie mancher schaffende Künstler, der seiner Einsamkeit eine befremdend grundlose Eigenwelt abtrotzte.

      Nach seiner Ankunft in Zürich schlug er durch den noch taghellen, von heimkehrenden Ausflüglern belebten Sonntagabend sogleich